Jazz and the City
Johanna Marie Rolff: Identitätskrisen und -konstruktionen in den 1920er Jahren
TEXT: Heinz Schlinkert |
Der Beginn des Jazz in Deutschland ist im Moment ein wichtiges Thema. Auch im Dokumentarfilm 'Jazzfieber' geht es darum. Eine gute Ergänzung dazu bildet das Buch 'Jazz and the City' von Johanna-Marie Rohlf, in dem die Autorin einen Überblick über die Anfänge der Jazz-Rezeption in Deutschland gibt.
Jazz nicht i n, sondern a n d the City, heißt das Buch, denn es handelt davon, wie der Jazz vor allem in den 20er Jahren in Berlin aufgenommen wurde. Die Autorin Johanna-Marie Rohlf hat das anhand zeitgenössischer Texte und im Rahmen stadtsoziologischer Fragestellungen erforscht:
„Es soll der Frage nachgegangen werden, welchen Einfluss Musik … auf die Stadt … haben kann, und umgekehrt, welche Bedingungen der Stadt , besonders der Großstadt, das Arbeiten als Musiker prägen.“ (S.26f)
Für Berlin stellt sich damit die Frage, inwiefern sich durch die internationalen Einflüsse eine neue urbane Identität herausgebildet hat. Der Text wurde 2018 als Dissertation vorgelegt und ist nun im Waxmann Verlag als Band 38 der interessanten Reihe ‚Populäre Kultur und Musik’ erschienen.
Da es um eine ganz spezielle Fragestellung geht, bei der das konkrete Jazzgeschehen nur teilweise zur Geltung kommt, sollte man sich vor der Lektüre dieses Buchs erst einmal anderweitig über die Fakten zum Thema ‚Jazz in der Weimarer Republik‘ informieren; z. B. im zweiten Kapitel von Wolfram Knauers Standardwerk ‚Play yourself, man!‘
City und „Jazz-Aufprall“
In der Einleitung werden Theorieansätze, Schlüsselbegriffe und bisherige Forschungsergebnisse dokumentiert, wie es in einer Dissertation üblich ist. Im zweiten Kapitel steht erst einmal die ‚City’ im Vordergrund. Dabei geht es um das Verhältnis von Popularmusik und Großstadt, besonders um Kennzeichen der Großstadt, um Arbeitsverhältnisse der Musiker, um den Generationenkonflikt und um die Rivalität von Großstadt und ‚Provinz‘.
Im dritten Kapitel des Buches geht es dann wirklich um Jazz, zunächst für die erste Hälfte der 20er Jahre: „Jazz zwischen Chance und Bedrohung“. Vom „Jazzaufprall“ ist die Rede, bei dem die völlig neue Musik aus den USA herüberschwappte in ein Deutschland, das vom Ernst klassischer Musik, von Marsch- und feuchtfröhlicher Volksmusik geprägt war.
Auf 50 Seiten wird über die Rezeption amerikanischer Musik in den deutschen Medien berichtet, wozu ausgiebig Zitate angeführt und interpretiert werden. Dabei stehen die Konzerte von ‚Sam Wooding and the Chocolate Kiddies‘ (1925) und Paul Whiteman mit seinem Orchester (1926) geradewegs paradigmatisch für zwei unterschiedliche Jazz-Konzepte, die in Deutschland in jeder Hinsicht konträr diskutiert wurden. Dies wird anhand verschiedener Aspekte ausführlich analysiert, wobei Identität und Image eine besondere Rolle spielen.
[N] oder „Neger“?
Political Correctness – oder Woke? - spielt in der Sprache der Dissertation eine Rolle. So heißt es in einer Fußnote auf S. 107: „Die Originalquellen enthalten vielfach das heute nicht mehr verwendete N-Wort. Um den rassistischen Begriff nicht zu reproduzieren, wird er hier und im Folgenden mit „N“ abgekürzt; in den Literaturangaben bleibt der originale Wortlaut stehen.“ Die Intention ist nachvollziehbar, doch warum darf man das diskriminierende Wort nicht in einem hochwissenschaftlichen Kontext in Anführungsstriche setzen?
"reges Jazzleben ohne jeglichen Jazz" - Professionalisierung
Konkreter und interessanter wird es im 4. Kapitel, wo es um den Prozess der Professionalisierung geht, der in den 20er Jahren schnell voranschritt. Wichtig sind hier Netzwerke des Jazz und Orte wie das Berliner Adlon. Am Beispiel des US-amerikanischen Banjo-Spielers Michael Danzi werden diese Entwicklungen anschaulich dargestellt. Zur Analyse des Jazz-Netzwerks in Berlin wird die ‚Akteur-Netzwerk-Theorie‘ (ANT) zugrundegelegt. Warum Michael Danzi schon kurz nach seiner Ankunft in Berlin mit seinem Banjo sehr schnell bei einem Konzert akzeptiert wurde, kann man sich zwar auch so gut ausmalen. Anhand der ANT werden aber systematisch alle ‚Aktanten‘ ermittelt, die seine Intergration begünstigten. ‚Aktanten‘ können Personen, aber auch Fähigkeiten, Orte und besonders Instrumente sein.
Interessant ist in diesem Zusammenhang das Zitat von Wolf Kampmann, Deutschland sei „das einzige europäische Land, in dem sich ein reges Jazzleben ohne jeglichen Jazz entwickelte“ (S.173) Denn die Instrumente Saxofon und Schlagzeug waren damals ungewöhnlich und signalisierten ‚Jazz‘, egal was wirklich damit gespielt wurde.
Deutlich wird, dass sich die rasante Entwicklung der Jazzszene und die technische Entwicklung von Radio und Schallplatte gegenseitig bedingten. Auch die Fortschritte der Transporttechnik waren wichtig, weil diese erst Tourneen und Reisen in die USA zwecks Kulturaustausch ermöglichten.
Im Schlusswort werden vorherige Ergebnisse zusammengefasst und die Eingangsfrage mit einem nicht gerade überraschenden Ergebnis beantwortet: der Jazz der 20er Jahre „trägt somit nicht nur zur Globalisierung der Stadt Berlin bei“, sondern „markiert auch den Beginn der sich zunehmend globalisierenden Musikszene des 20. und 21. Jahrhunderts“. (S.213)
Im Anhang befinden sich zwei ausführliche Literaturverzeichnisse zu Primär- und Sekundärliteratur, leider kein Namens- bzw. Titelverzeichnis. Das Inhaltsverzeichnis findet man als pdf auf der homepage des Verlages. Das Buch ist als wissenschaftlicher Text mit langen Zitaten und vielen Anmerkungen recht schwer zu lesen und enthält außer der Titelseite keine Abbildungen, doch die Mühe lohnt sich!
Johanna-Marie Rohlf: Jazz and the City - Identitätskrisen und -konstruktionen in den 1920er Jahren in Berlin
Populäre Kultur und Musik, Band 38
Verlag: Waxmann
Ersterscheinung: 18.07.2023
ISBN: 9783830943525
34,90 €
Ergänzend zu dieser Thematik sind vor kurzem zwei Monografien erschienenen:
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