STEFAN WEISS
Musikgeschichte in Moderne und Postmoderne
TEXT: Heinz Schlinkert |
Mit dem 5. Band der Reihe ‚Musikgeschichte‘ des Bärenreiter Verlags gibt Stefan Weiss eine sehr interessante Übersicht über die Entwicklung der Musik seit 1900. Früher waren solche Darstellungen auf die klassische Musik beschränkt, doch in diesem Buch werden auch Jazz, Rock und Popmusik berücksichtigt:
„Der Klang des 20. Jahrhunderts setzt sich nicht allein aus kanonisierten Werken akademischer Komponist:innen zusammen, sondern ist unzweifelhaft von Musiker:innnen wie Duke Ellington, Edith Piaf, Kraftwerk oder Madonna geprägt.“ (S.16)
Kann man die Musik vor 1900 noch in Stilepochen einteilen, so ist das bei der Musik danach nicht mehr so einfach. Dieses Buch hilft dabei, einen Überblick über die sehr unübersichtliche Entwicklung der Musik dieses Zeitraums zu bekommen. Als Ausgangspunkt werden mit Bezug auf Wolfgang Welsch die Begriffe ‚Moderne‘ und ‚Postmoderne‘ erläutert und voneinander abgegrenzt. Auch der Begriff ‚Neue Musik‘ spielt eine wichtige Rolle. Dass Einheitlichkeit dem Geist der Postmoderne widerspricht, wird schnell klar. Klassik, Pop, Rock und Jazz stehen gleichberechtigt nebeneinander.
Grundfragen zur Musik: Relevanz - Wertvorstellungen - Musikleben
Auf den ca. 60 Seiten des 2. Kapitels geht es um ‚Grundfragen zur Musik seit 1900‘. In diesem Kapitel werden zentrale Fragestellungen ausgeführt und anhand von Musikbeispielen erläutert. Es geht um drei Aspekte:
‚Relevanz‘ - So zeigt Weiss, dass mittels der technischen Medien der gesellschaftliche Stellenwert der Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts stetig zugenommen hat, da Musik nun für jeden zugänglich wurde und als Mittel der Selbstdefinition und Selbstdarstellung dienen konnte. Die Musik bekam damit ein gesellschaftsveränderndes Potenzial und konnte auch politisch wirksam werden, wie das Beispiel des ‚Jazz-Exports‘ der US-Regierung in den Nahen Osten zeigt. Besonders interessant sind die Ausführungen zur Rezeption der US-amerikanischen Musik nach dem ersten Weltkrieg. Für den Komponisten Hans Pfitzner in Berlin trat sie „den Siegeszug durch Europa an, alles zermalmend“, eine „Geisterschlacht gegen europäische Kultur“ (S.25) Cocteau, Milhaud, Populenc und andere aus der Gruppe ‚Les Six‘ begrüßten sie dagegen als „Musik, die man sich mit den Händen anhört“ (S.22) und wollten die französische Musik damit von deutschen und russischen Einflüssen befreien. Ernst Kreneks Oper ‚Jonny spielt auf' wird dazu ausführlich mit Notenbeispiel dargestellt.
‚Wertvorstellungen’ – Musikstile sind nun in Diskurse eingebunden, da kommt Adornos Musiksoziologie ins Spiel. Doch auch die Musik von Schostakowitsch ist Thema; am Beispiel der Oper ‚Lady Macbeth von Mensk’ stellt der Autor die schwierige Situation der Musiker in stalinistischen Sowjetunion dar. Doch es geht auch um das Verhältnis von Musik und Sprache, das besonders für den Bereich der Popmusk wichtig ist. Unter diesem Aspekt wird auch Joni Mitchell genannt, ihr Little Green von 1966 wird ausführlich analysiert und interpretiert.
‚Musikleben’ - hier geht es um die Orte, an denen Musik produziert und aufgeführt wird. Typisch für Rock und Jazz waren zunächst kleine Orte wie Clubs und Cafes; Verlage, Labels und Medien waren wichtige Schaltstellen. Der Autor erinnert an die Entstehung der Musikvideos in den 80ern, in denen der Sender MTV Kultcharakter hatte. Am Beispiel von Madonnas Material Girl - Video wird detailliert die Verflechtung der narrativen, performativen und musikalischen Ebenen aufgezeigt.
Stile seit 1900
Im Buch werden in den folgenden drei Kapiteln Stile seit 1900 vorgestellt. Für die Phasen 1900-1945, 1945-1975 und 1975 bis heute folgt auf eine detailreiche Beschreibung jeweils eine Analyse eines exemplarischen Stücks oder Albums.
Natürlich geht es auch um klassische Musik wie impressionismus, Expressionismus, Zwölftontechnik, serielle Musik und Minimalismus und um Musiker wie Strawinsky, Debussy, Ligeti, Schönberg, Berg, Webern, Steve Reich u. v. a.. In dieser Rezension stehen allerdings Jazz, Rock und Popmusik im Vordergrund.
Im Rahmen der ersten Phase stehen Ragtime und Blues im Vordergrund. W.C. Handy’s St. Louis Blues wir als Beispiel auch anhand eines Notenbeispiels dargestellt. Die Entstehung des frühen Jazz aus Blues und Ragtime wird am Beispiel von Nick La Rocca’s Tiger Rag erläutert, wobei in einer Tabelle die Interpretation der Original Dixieland Jazz Band und die von Duke Ellington miteinander verglichen werden (s. Notenbeispiel oben)
Für den Zeitraum von 1945 bis 1975 spielt moderner Jazz eine große Rolle. Anhand einer Gegenüberstellung von Goodman’s How High The Moon und Parkers Ornithology zeigt der Autor die Genese des Bebop aus dem Swing heraus (s. Notenbeispiel). Noch mehr Raum nimmt der Cool Jazz ein, da geht kein Weg an Kind of Blue von Miles Davis vorbei. Entwicklung und Bedeutung des modalen Jazz werden anhand von So What, Flamenco Sketches und Blue in Green ausführlich dargestellt.
Detailliert erläutert wird die große Bedeutung der Rockmusik, exemplarisch dazu Chuck Berry’s School Day und das Beatles Album Revolver. Wo Chuck Berry gezielt die Gefühlslage einer sehr jungen Zielgruppe ansprach, schufen die Beatles mit ihrem Album einen Meilenstein in der Entwicklung der Rockmusik. Vielleicht haben manche Leser dabei Aha-Erlebnisse, wenn ihnen bewusst wird, dass bei For No One ein Horn gespielt wird oder dass die Beatles bei Eleanor Rigby nur noch singen, begleitet von Streichern.
Bei der Musik seit 1975 geht es u. a. um ‚Retromanien` (S. Reynolds), also um die Verbindung verschiedener Zeiten und Kulturen, hier am Beispiel von Wolfgang Rihm und von zwei Stücken von Radiohead. Ganz am Ende im Abschnitt ‚Im digitalen Zeitalter‘ ist computergesteuerte Musik von Bernhard Lang Thema.
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Dies ist ein sehr interessantes Buch, hier schreibt jemand mit Durchblick, der sich im Dschungel der Musikstile gut auskennt. Stefan Weiss ist seit April 2003 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Aufgrund seines breit gefächerten Fachwissens kann er zeigen, wie Stile entstanden sind, wie sie sich überlagern, sich gegenseitig beeinflussen oder wie sich auch Entwicklungen wiederholen:
„Im Jazz etwa ist bis um 1965 eine klare Abfolge stilistischer Modelle zu verzeichnen… . Die Zeit danach brachte nicht nur .. eine Stagnation in der Neuentwicklung benennbarer Tendenzen, sondern auch eine postmoderne Durchmischung der Stile… . Aber auch in der Rockmusik selbst ist das Moment der Pluralisierung um die Mitte der 1960er Jahre evident.“ (S.16f)
Das Buch passt auch gut zu Tobias Bleeks ‚Im Taumel der Zwanziger‘, das das Buch von Weiss in Bezug auf das Jahr 1923 gut ergänzt.
Weiss, Stefan: Musikgeschichte - Moderne und Postmoderne
Bärenreiter Studienbücher Musik 23
Hrsg. Von Leopold, Silke / Schmoll-Barthel, Jutta
ISBN 9783761824603
238 S., 27,50€
In der Reihe Bärenreiter Studienbücher Musik bereits erschienen:
Melanie Unseld: Musikgeschichte „Klassik“. Band 21. 2022 € 24,95
Lorenz Luyken: Musikgeschichte „Romantik“. Band 22. 2023 € 27,50