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IM TAUMEL DER ZWANZIGER

1923: Musik in einem Jahr der Extreme

Kassel, 20.07.2023
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Markus Feger

Auf den ersten Blick könnte man dieses Buch auf einige wenige Komponisten und Werke im Jahr 1923 reduzieren: Strawinsky's "Les Noces und Oktett",  Bartók's "Tanzsuite", Schönberg's "Dodekaphonie", Bessie Smith's "Down Hearted Blues" und Louis Armstrong's "Canal Street Blues". Für Deutschland geht es um das Musikleben in der Inflationszeit, das Deutschlandlied während der Ruhrbesetzung und um die Berliner "Funkstunde".

Der Autor macht aber schon im Vorwort deutlich, dass es um viel mehr geht. Seine zentralen Themen sind „die Rolle von Musik in Zeiten der Krise und des rasanten Wandels, ihre Einbettung in gesellschaftliche, soziale wirtschaftliche und politische Strukturen und Prozesse, sowie die Frage, wie dieses Zusammenspiel … jeweils beschaffen ist und was es uns über die Zeit und die Menschen … verrät.“ (S.10)

Das Jahr 1923 ist für ihn deshalb „eine Art Kristallisations- und Knotenpunkt, ein Zeitabschnitt, in dem die Phänomene und Entwicklungen sich besonders deutlich zeigen, sich verdichten, ihren Anfang nehmen oder kulminieren, deren Eigenheiten und deren Tragweite man erst dann wirklich ermessen kann, wenn man ihre Vorgeschichte und Weiterentwicklung kennt.“ (S.16)

Das ist ein gewaltiger Anspruch, denn es geht nicht zuletzt um globale Entwicklungen, nicht nur in der Musik. Wie soll das auf 300 Seiten gehen? Angesichts der Materialfülle kann dies nur exemplarisch geschehen.

Insgesamt liegen der Darstellung vier Gesichtspunkte zugrunde: Die Entwicklung der Musik selbst (Klassik und Jazz) steht im Vordergrund, meist in Verbindung mit der Darstellung der politischen Verhältnisse. Die Entwicklung der Medien, besonders von Schallplatte und Radio, spielt im zweiten Teil eine Rolle, darüber hinaus geht es oft auch um die Dualität von Nationalismus und Interkulturalität. Diese vier Aspekte sind nicht in allen Kapiteln gleich wichtig, bilden aber die Grundlage des gesamten Buches.

Tobias Bleek

Der Autor Tobias Bleek ist Honorarprofessor an der Folkwang Uni Essen und an der Uni Potsdam. In Zusammenarbeit mit Künstlern wie Pierre Boulez hat er die digitale Plattform www.explorethescore.org entwickelt. 2007 übernahm er die Leitung des ‚Education-Programms des Klavier-Festivals Ruhr‘ und ist für den aktuellen Themenschwerpunkt des Klavier-Festivals Ruhr in diesem Jahr zuständig; auch dieser heißt ‚1923: Musik in einem Jahr der Extreme‘. In vier Veranstaltungen wird die Musik aus dem Jahr 1923 in unterschiedlichen Formaten dargestellt, u. a. mit einem Konzert des Frank Chastenier Trios und einer Vorführung von Charlie Chaplins 'The Kid' mit Helge Schneider am Klavier. Auch Führungen durch die Ausstellung im Essener Ruhrmuseum zur Ruhrbesetzung gehören dazu.

1923 Musik in Deutschland

Über die Musik in Zeiten der Hyperinflation ist wohl bisher noch nicht viel geschrieben worden. Im Buch erfährt man einiges über die Probleme der Konzertbranche, die kaum noch kalkulieren konnte, weil die Preise von jetzt auf gleich ins Unermessliche stiegen. Mehr noch geht es um den „Konzertsaal als Flucht und Sehnsuchtsort“ (S.41), der vielen Menschen Gelegenheit bot, der grausigen Realität zu entfliehen. Die ‚Tanzwut‘ wird ausführlich dokumentiert in Verbindung mit der Einführung neuer Tänze und der Lockerung moralischer Vorstellungen. Der Bruch von Tabus wird am Beispiel der Tänzerin und Schauspielerin Anita Berber deutlich. Das war wohl auch eine Art Kulturkampf, der an die 68er erinnert. So bezeichnete ein Zeitgenosse die amerikanischen Tänze als „probates Mittel im Kampf gegen das Preußentum“ (S. 48).

Besonders interessant sind die Ausführungen zur Zeit der Ruhrbesetzung. Die Bedeutung des Deutschlandlieds, das erst wenige Jahre vorher zur Nationalhymne erhoben worden war, dessen politische Instrumentalisierung, aber auch die Rolle der ‚Wacht am Rhein‘ werden ausführlich dargestellt. Auch die Jugendmusikbewegung spielt eine wichtige Rolle, in der schon damals völkische Tendenzen angelegt waren. Walter Hensel und die ‚Waldsiedlung Finkenstein‘ waren hier sehr wichtig (s. Foto). Doch auch Karl Vötterle, der Gründer des Bärenreiter Verlags, in dem das Buch erscheint, hatte dort seinen Ausgangspunkt.

Strawinsky - Bartók – Schönberg

Bleek zeigt, dass jeder dieser drei bedeutenden Musiker einen national geprägten Ausganspunkt hatte, jeder schaffte es auf seine Art und Weise sich davon zu lösen und maßgeblich zur Entstehung der Modernität bzw. des Interkulturalismus in der Musik beizutragen. Für Strawinsky wird gezeigt, wie er sich ausgehend von den 'Sacres de Printemps' mit 'Les Noces' neu orientiert und mit dem 'Oktett' die Wende zum Neoklassizismus eingeht. Bartók war im damals neu gegründeten Staat Ungarn zunächst ausgesprochen nationalistisch orientiert, ging 1923 mit der 'Tanzsuite' aber wichtige Schritte in Richtung Interkulturalismus. Der Österreicher Schönberg - zwar fast durchgängig kulturpolitischer Nationalist - schuf im Jahre 1923 mit seinen ersten Stücken, besonders mit dem Walzer aus 'opus 23', die Zwölftonmusik. Bezüge zur Zeitgeschichte werden hier, ausführlich dargestellt.

Bessie Smith, Louis Armstrong und das Radio

In zwei Kapiteln auf ca. 50 Seiten wechselt die Szenerie. In den USA wird das Jahr 1923 nicht mit den vorher beschriebenen Problemen in Verbindung gebracht, so stehen diese beiden Kapitel ziemlich isoliert zwischen den anderen. Den gesellschaftlichen Hintergrund bildet hier die Rassendiskriminierung, die die gesellschaftliche Segregation auch in der Musik fortsetzte. Bessie Smith war als schwarze Frau doppelt benachteiligt, was in den Blues-Texten klar zur Geltung kommt. Der Down Hearted Blues wird dazu sehr ausführlich interpretiert. Bei Louis Armstrong steht zunächst die Loslösung von King Oliver unter dem Einfluss seiner Ehefrau Lil Hardin im Vordergrund. Für beide bildet die Entwicklung neuer Medien einen wichtigen Bezugspunkt und damit auch die Entstehung der modernen Musikindustrie, in der Technik und Marketing die Musikwelt von Grund auf veränderten.

Armstrongs am 25. April 1923 aufgezeichneter 'Canal Street Blues' und Bessie Smiths im selben Jahr erschienener 'Blues Tain’t Nobody’s Biz-ness If I Do' stehen exemplarisch für die ersten Schallplattenaufnahmen, für die man das Label der Race Records (!) erfunden hatte. Bessie Smith hatte 1923 aber auch ihren ersten Radio-Auftritt, den hauptsächlich weiße Zuhörer verfolgten, weil die farbigen sich die Geräte nicht leisten konnten. Louis Armstrong war erst 1924 mit der Fletcher Henderson Band im Radio. Der Autror schreibt treffend, dass „die Radiowellen .. über gesellschaftliche und soziale Grenzen hinwegfluteten.“ (S.271)

In Deutschland war damals echter US-Jazz kaum bekannt, doch das Radio gab es auch. Die Berliner ‚Funkstunde‘ ist Thema des letzten Kapitels, mit dem wieder der Bogen zu Deutschland geschlagen wird. Der schnelle Aufstieg des Radios zum Massenmedium wird dargestellt, aber auch die Skepsis im Umgang mit dem neuen Medium. Meist wurde live musiziert, auch von Strawinsky, Bartók und Schönberg, die die Chancen des neuen Mediums erkannt hatten.

___Unterm Strich ___

Vieles aus dem Blues/Jazz-Bereich werden einige LeserInnen schon kennen, dafür kann man aus den Kapiteln über klassische Musik allerhand Neues erfahren. Für die mehr klassisch orientierten LeserInnen könnte das andersherum der Fall sein, ein Gewinn für alle.

In den ersten Kapiteln ist der im Vorwort formulierte Anspruch sehr gut umgesetzt. Danach treten die Bezüge zur Zeitgeschichte zunehmend in den Hintergrund, so dass die Kapitel den Charakter von Einzelartikeln bekommen. Die Diskussion um kulturelle Appropriation könnte thematisiert, zumindest angesprochen werden, z. B. wenn Bartók zitiert wird mit „Die ‚rassische Unreinheit‘ ist entschieden zuträglich“ (S.129).

Dies ist ein sehr interessantes Buch. Gefehlt hat mir nur ein Resumé am Ende, in dem Entwicklungslinien zusammengefasst und eine Art Bilanz gezogen würde. Inwiefern waren die dargestellten Ereignisse prägend für die weitere historische Entwicklung (‚Goldene 20er‘, Nazismus)? Inwiefern gibt es Parallelen zur aktuellen Krise? Doch dazu wären wohl nochmal 300 Seiten nötig.

Beim WDR gibt es zur Zeit einen Podcast mit einem Interview mit Tobias Bleek zu seinem Buch: WDR 3 TonArt. 26.4.2023

Beim BR gibt es zur Zeit ein Podcast mit Tobias Bleek über Arnold Schönberg und die Entwicklung der Zwölftontechnik

Bleek, Tobias - Im Taumel der Zwanziger - 1923: Musik in einem Jahr der Extreme

Editionsnummer BVK02519
ISBN 9783761825198
Bärenreiter/Metzler
April 2023
Euro 29,99

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