Züricher Hypnose-Uhrwerk und New Yorker Kraftwerk
Auftakt der ECM-JazzNights
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | FOTO: Heinrich Brinkmöller-Becker
Was unterscheidet einen Züricher von einem New Yorker? Ich weiß es nicht, ich habe eher eine Ahnung davon. Was Nik Bärtsch’s Ronin und das Vijay Iyer Sextet unterscheidet, ist jedenfalls ganz offenkundig. Beim Tourneeauftakt der Reihe der JazzNights 2018/19 von ECM im Dortmunder Konzerthaus präsentiert das renommierte Label die beiden Hochkaräter des aktuellen Jazz: In dem „Double-Bill“ treten zwei Formationen auf mit der Gemeinsamkeit, im wesentlichen Material ihrer jeweiligen aktuellen CD zu spielen: Awase der Albumtitel der Schweizer, Far From Over der des US-amerikanischen Sextetts (Rezensionen bei nrwjazz: Awase, Far From Over). Hier endet das Gemeinsame, könnten die beiden Gruppen von ihrer Herkunft, aber vor allem von ihrer Stilistik her kaum unterschiedlicher, ja gegensätzlicher sein.
In gleicher Besetzung wie auf ihrer CD mit Sha (Bassklarinette, Altsaxophon), Thomy Jordi (E-Bass) und Kaspar Rast (Drums) eröffnet das Quartett von Nik Bärtsch am Flügel den Konzertabend in kaum beleuchteter Bühne mit einem verhalten-ruhigen „Modul“, das sich allmählich zu einem Wiederholungs-Furor steigert. „Ritual Groove Music“ nennt sich der musikalische Stempel der Formation, ihre Kraft bezieht sie aus repetitiven Mustern, bestehend aus einfachen Melodie- und Rhythmus-Grooves, die in der Präzision eines mechanischen Orchesters exerziert werden – der Vergleich mit einem Schweizer Uhrwerk liegt vielleicht nahe. Auch in der Live-Version entfaltet Ronin damit die Suggestivwirkung einer Zen-Meditation, der man sich kaum entziehen kann. Auf der Folie von ostinaten Mustern vollzieht sich eine ständige Variation im Klanglichen und Rhythmischen, das oberflächlich Monotone ihrer Musik erfährt im Spielverlauf immer wieder eine raffinierte Modulation. Nik Bärtsch gibt mit seinem präparierten Klavier eine Idee vor, die von der Bassklarinette oder dem Altsax oder dem Bass aufgegriffen wird und allmählich von den anderen Instrumenten unterstützt wird. Die Exerzitien des Minimalismus steigern sich so zu einem Rausch der Wiederholung - bis an die Grenze des Erträglichen, wenn etwa in der Sha-Komposition A eine ohrwurmartige Melodie minutenlang wiederholt wird und nur die Bühnenbeleuchtung für eine Abwechslung für die Sinnesorgane sorgt. Die tranceartige Spannung löst sich erst in der Zugabe durch Shas expressive Schreie auf dem Altsax.
Nach der Pause ist bereits nach den ersten Takten spürbar: Vijay Iyers Sextett gibt dem Publikum mit unbändiger Energie und Spielfreude was auf die Ohren, das New Yorker Kraftwerk löst das Züricher Hypnose-Uhrwerk ab. Vijay Iyer versammelt erstklassige Musiker um sich, Graham Haynes ist ein ausgewiesen innovativer Bläser (Kornett, Flügelhorn, electronics), ebenso Tenorsaxophonist Mark Shim und Steve Lehman am Altsaxophon. Die Rhythmussektion ist mit Harish Raghavan am Bass und dem Drummer Jeremy Dutton anders besetzt als auf der CD. Letzterer ist der Band-Youngster und wird seinem Ruf als rising star der Jazzszene mit einem pulsierenden Power-Spiel voll und ganz gerecht. Mitreißend-explosive Bläsereinsätze, perfektes Ensemblespiel, großartige Soli sind das Markenzeichen des Sextetts. Der Bandleader am Steinway und an den Fender Rhodes unterstützt die Gruppe mit wohltuend zurückhaltendem Akkordspiel, um im eigenen Solo-Part – am stärksten fokussiert in der Trio-Besetzung – seine überbordende Ideenvielfalt und Virtuosität unter Beweis zu stellen. Der musikalische Schmelztiegel bringt die unterschiedlichsten Timbres zum Klingen: bluesige, funkige Elemente, lyrisch-kraftvolles Pathos, ruhig-besinnliche Phasen, energisch-durchdringende Einsätze – Vijay Iyers Klangwelt ist ausgesprochen facettenreich und kosmopolitisch angelegt. Zum Wahlabend in den USA geht sein Plädoyer für eine offene Gesellschaft in dieselbe Richtung.
Seinen zu Beginn des Konzerts geäußerten Optimismus, dass die Auftaktveranstaltung immer die beste Seite einer Tournee zeigte, bezieht sich leider in Dortmund nicht auf das dortige Publikum: Es verlässt scharenweise den Konzertsaal – mitten im Spiel auf der Bühne, zum Teil türenschlagend. Blamabel bei einem so hochkarätigen Konzert, das offensichtlich von vielen nicht gewürdigt werden kann. Auch ist ein solches Verhalten an einem langen Konzertabend nicht durch den Fahrplan des ÖVPs zu entschuldigen. Stehende Ovationen am Ende für einen gelungenen Abend, der in gewisser Weise exemplarisch die Bandbreite eines Ausnahme-Labels abbildet.