Jazzinstitut: Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 17
ROOTS HEIMAT Diversity in Jazz
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Wilfried Heckmann
'ROOTS | HEIMAT - Diversity in Jazz'. Mit diesem Themenkomplex befassten sich die Referenten des 17. Darmstädter Jazzforums im Oktober letzten Jahres. Die Ergebnisse wurden nun in den ‚Darmstädter Beiträgen zur Jazzforschung Band 17‘ veröffentlicht.
Es ging vor allem um die Frage 'Wie offen ist der Jazz?' und der Herausgeber Wolfram Knauer liefert gleich im Vorwort die Antwort:
„Ziemlich“
- 'Wie offen ist der Jazz?'
Offenheit ist gut, aber wer oder was steht ihr entgegen? Sicher sind es immer noch einige Männer, wenn es um Gender geht. Vorurteile vor allem ideologischer Art sind dagegen breiter gestreut. Oft sind sie mit unterschiedlichen Vorstellungen darüber verbunden, was Jazz eigentlich ist oder sein sollte. Das Thema Offenheit betrifft Komponisten, die Musiker selbst, Veranstalter und Dozenten; alle kamen bei der Tagung zu Wort. Nicht zuletzt ging es auch um unser Verhältnis in unserer HEIMAT zu den 'schwarzen' ROOTS des Jazz.
Der Herausgeber Wolfram Knauer hat schon früher an anderer Stelle die Frage nach der Offenheit treffend beantwortet:
„Der Jazz ... ist eigentlich eine Musik der offenen Ohren. Musiker stehen auf der Bühne, sie spielen mit anderen Musikern zusammen, sie improvisieren. Das alles geht nur, wenn man die Ohren offen hält, wenn man zuhört, was die anderen da machen, damit man reagieren kann, unterstützen, gegensteuern, seine eigene (musikalische) Meinung beitragen.“*
Die 'offenen Ohren' beziehen sich nicht nur auf die Konzertsituation, sondern auch auf die Entwicklung des Jazz, der immer schon externe Einflüsse aufgenommen hat.
Doch wie weit kann die Offenheit gehen? Ist da Bill Ramsey ein Vorbild, der im Beitrag von Nico Thom als Jazzmusiker, aber auch als erfolgreicher Schlagersänger dargestellt wird? Und was folgt daraus? Viele Beiträge handeln von der Melange, die Jazz in anderen Umgebungen eingegangen ist. So berichtete Ádám Havas von der Rolle des Jazz in Ungarn. Niklaus Troxler erzählte im Gespräch mit Wolfram Knauer von seinen persönlichen Erfahrungen mit weltbekannten Musikern in der Schweiz. In einer Roundtable über 'Fremdsein, Ankommen, Fremdbleiben. Gespräch über eigene Erfahrung der Identitätswahrnehmung' berichteten zwei junge MusikerInnen von ihren Erfahrungen als Farbige in Deutschland. Vincent Bababoutilabo steuerte 'Beobachtungen eines Antirassisten in der deutschen Jazzausbildung' bei und stellte fest, dass die ROOTS dabei kaum eine Rolle spielen. Timo Vollbrecht machte sich grundlegende Gedanken u. a. zum Social Othering und zur Critical Whiteness.
- „Kulturelle Aneignung“ und 'Afrikanische Diaspora'
Bei der Tagung wurde oft der Begriff der „kulturellen Aneignung“ bemüht. Demzufolge würde die 'schwarze' Kultur durch die Kultur der Weißen beraubt, in der das 'schwarze' musikalische Erbe aufgenommen und als eigene Leistung ausgegeben wird, wie z. B. bei Elvis Presley. Wer das zu Ende denkt, muss sich fragen, welche Spielräume da noch für die Weiterentwickelung des Jazz bleiben. Luise Volkmann bemerkte völlig zu Recht in ihrem Referat über 'Ritualität im Jazz', dass „die Idee von homogenen und klar abtrennbaren Kulturräumen … ihren Ursprung in einem hierarchischen und rassistischen Denken“ hat. Denn: „Kultur bildet sich geschichtlich gesehen immer aus einem Prozess der Aneignung.“ (S.260).
Stephan Meinberg referierte 'Vom Umgang mit dem Privilegiert-Sein' und betonte dabei die politische Relevanz der Musik der 'Afrikanischen Diaspora', also der ROOTS im Sinne der Tagung. Allerdings vermochte er in seinem mit vielen trendigen Fremdwörtern gespickten Beitrag nur wenig beizutragen, weil er sich in weitschweifigen soziologisch-politischen Ausführungen – inkl. dem Anteil Afrikas zum Klimawandel - verlor.
'Diaspora' meint ja generell die Existenz religiöser, nationaler o. ä. Gemeinschaften in der Fremde. Beim Jazz geht es dabei um die Nachfahren der ehemaligen Sklaven in den USA. Was wäre, wenn man die Nachfahren der französischen Hugenotten in Deutschland als 'französische Diaspora' bezeichnete? Natürlich ist die Situation der Afroamerikaner eine ganz andere, aber sie sind doch keine homogene Gruppe, die man nur auf ihre Herkunft reduzieren darf.
Hierzulande gerät man in Rassismus-Verdacht, wenn man jemanden wegen seines nicht mitteleuropäischen Aussehens nach seiner Herkunft fragt - mit dem Diaspora-Begriff aber wird eine große Gruppe auf ihre Generationen zurückliegende Herkunft reduziert, wie passt das zusammen?
Zudem wies Philipp Teriete, über dessen Referat wir bereits in einem Report berichteten, schon am Anfang der Tagung nach, dass selbst die ersten afroamerikanischen Musiker in ihrer musikalischen Ausbildung durch europäische Lehrpläne, also 'weiße' Musik geprägt waren. Hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn da würde niemand von kultureller Aneignung sprechen.
- Creolization:„The Mississippi joins the Rhine“
Die Idee einer rein afroamerikanischen Musik ist darum nur ein Konstrukt, mit der man die Geschichte im Nachhinein neu erfindet, was nicht heißt, dass man die historischen Bedingungen ihrer Entstehung negieren soll. Harald Kisiedus Beitrag („We Are Bessie Smith’s Grandchildren“. Reflections on Creolization in post-1950s Experimental Jazz in Europe), ist vielleicht der wichtigste der Tagung. Er lieferte mit dem Begriff der 'Kreolisierung' einen überzeugenden Ansatz zum Verständnis der Jazz-Entwicklung und zur Konstruktion von Diversity. Dazu zitierte er George E. Lewis, nach dem sich die Musik des 21. Jahrhunderts durch 'créolité' auszeichnet, Lewis sieht einen „'new confluence of streams'“ in which, metaphorically speaking, 'the Mississippi join(s) the Rhine'“. **
Bei Kreolisierung geht es nicht um 'kulturelle Aneignung', sondern ganz im Gegenteil um die wechselseitige Antizipation und Kooperation. Dies zeigt Kiesidu am Beispiel des europäischen Jazz der 60er, konkret an Schoof, Brötzmann und von Schlippenbach. Der europäische Jazz war demnach nicht eine 'Antwort' auf den US-Jazz, der bis dahin als Vorbild galt. Vielmehr haben sich die Musiker auf beiden Seiten des Atlantik gegenseitig beeinflusst und zusammen den Jazz weiterentwickelt.
Interkultureller Austausch ist darum ein wichtiges Instrument. So wurde bei der 3. Roundtable gefragt: 'Exportieren wir eigentlich nur Musik oder auch unsere Weltsicht?' Leider ging es dabei hauptsächlich um die Organisation von Festivals. Welche Inhalte und Methoden unsere Weltsicht im Unterschied zu anderen eigentlich ausmachen, wurde kaum thematisiert.
- Perspektiven - Jazz als übergreifende Weltmusik?
Und was folgt nun aus all diesen unterschiedlichen Diskursen? 'Ziemlich' offen ist der Jazz, bilanziert Wolfraum Knauer, aber eben nicht offen genug. Quotierungen bei der Organisation von Festivals wurden diskutiert. Zu Gender mag das gehen, aber Diversity kann man nicht quotieren, meinte Sylvia Freydank wohl zu Recht.
Luise Volkmann
sah Chancen im Begriff der 'Ritualität' des Jazz, doch ich glaube Offenheit kann man nicht erzwingen, es ist eine Haltung, die vor allem von Vorbildern lebt.
Archie Shepp und Heinz Sauer wären da ein gutes Beispiel. Peter Kemper berichtete dazu von deren Begegnung 1978 beim Frankfurter Jazzfestival. Nach einem langen Gespräch über ihre sehr unterschiedlichen 'Roots' erfuhren sie beim Spielen trotz ihrer diversen Lebensgeschichten eine enorme stilistische Nähe. Gibt es vielleicht doch etwas Übergreifendes im Jazz, das die Diversity transzendiert? Vielleicht macht gerade das den Jazz aus: Offenheit, Dialog und und Kooperation.
*Laudatio von Dr. Wolfram Knauer anlässlich der Verleihung des Hessischen Jazzpreises an Uwe Vorberg am 1.12.07 in Wiesbaden
** S.143 (Zitat im Zitat, aus G.E.Lewis, The Situation of a Creole, s. Knauer, Roots ... S.150)
Wolfram Knauer (Hg.) ROOTS | HEIMAT Diversity in Jazz
Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Band 17
Hg. Von Wolfram Knauer
303 S. mit vielen Fotos von der Tagung, € 29
978-3-95593-017-2
Wolke Verlag, die ersten 11 Seiten hier
detailliertes Register, Zusammenfassungen nach jedem Referat (engl. bzw. deutsch)