Georg Graewe
Nothing Personal
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker |
Eine kleine silberfarbene Metall-Box mit drei CDs, voller Preziosen des Solo-Klaviers eines Ausnahmemusikers der Improvisationsszene – die Rede ist von der neuen Veröffentlichung von Georg Graewe ‚Nothing Personal‘. Die auf 300 Exemplare limitierte Box enthält drei CDs mit Aufnahmen aus dem Kölner Loft (CD 1 und 2), dem Festival Konfrontationen Nickelsdorf und dem Radiokulturhaus Wien (CD 3).
Gab der heute in Wien lebende Bandleader, Komponist und Pianist noch vor einem Jahr mit dem Sonic Fiction Orchestra in großer Besetzung im Schauspielhaus seiner Geburtsstadt Bochum ein Konzert der Sonderklasse (s. nrwjazz-Rezension), dokumentiert die neue Veröffentlichung eine eindrucksvolle Werkschau des Solisten aus sieben Jahren von 2012 bis 2019 – eine wahrlich konzentrierte und fokussierte Form der Musikwelt von Georg Graewe. Und die hat es in sich.
Wer Bearbeitungen von Jazz-Standards erwartet, wird beim Anhören der knapp 180 Minuten Solo-Klavier enttäuscht werden. Wer sich mit offenen Ohren auf die Tastenkunst Graewes einlässt, wird mit freier Klaviermusik at its best belohnt. Wie den Liner Notes zu entnehmen, ist die Box Keith Tippett und Fred van Hove gewidmet, zwei wie Graewe ähnlich kompromisslosen Pianisten der Impro-Szene. Und ‚Nothing Personal‘ ist dafür ein überzeugender Beweis: Die Musik der Box weist Graewe als hochvirtuosen Solisten aus mit einem individuellen Stil, der einen eigenen, nicht unbedingt reproduzierbaren Code entwickelt, frei von Stil- und Genrebeschränkungen, ja frei von üblichen Musikparametern wie Melodie, Harmonie und Rhythmik. Titel etwa wie ‚Valse Vesperal‘ oder ‚Valse, second thoughts‘ lassen nur noch von Ferne vielleicht einen ¾-Takt erkennen, sind in ihrem dekonstruktiven Ansatz eher Non-Wiener-Walzer.
Unbegrenzte spielerische Phantasie
Die meisten Stücke sind gekennzeichnet von einer schier unendlichen Vielfalt an pianistischen Einfällen, an halsbrecherisch schnellen Läufen, an irrlichternden Verzierungen, an wuchtigen Akkordsprüngen, an temperamentvollem Einsatz des gesamten Registers. Die atemberaubende Virtuosität ist gepaart mit einer unbegrenzten spielerischen Phantasie. Auch im Turbo-Tempo der Läufe ist mitunter noch zusätzlich eine Triole zu hören. Schnelle, ja perlende Läufe im Diskant (‚Angelic Agitation‘) erhalten im Bass rhythmische Counterparts wie z.B. bei ‚Ausfaltungen V‘. Viele Stücke sind in der Tat, wie ein Titel (‚Scintillations‘) treffend beschreibt, eine Folge von akustischen Lichtblitzen aufgrund einer energetischen Entladung. Dabei hat man den Eindruck, als ob der rauschhafte atonale Tastenzauber durch ein präzis-prägnantes Spiel domestiziert würde. Der musikalische Exzess basiert in der starken Verdichtung der Polyphonie auf einem kontrolliert intentionalen Einsatz der pianistischen Mittel, wie es nur aufgrund langer Instrumentalerfahrung gelingen kann. Neben den hyperschnellen furiosen Eruptionen, feinsinnigen Arabesken und wuchtigen Akkord-Schichtungen enthält die Sammlung - vor allem die dritte CD mit den Aufnahmen aus Österreich - auch Beispiele von ruhig-besinnlichen, ja: impressionistischen Stücken wie ‚Andacht‘.
Wow, ‚Nothing Personal‘ dokumentiert einen ganz besonderen überbordend-ausschweifenden Piano-Kosmos, ein sehr persönliches Statement eines freien Ausnahmepianisten.
Georg Graewe: Nothing Personal. Random Acoustics 2023. RA CD 037/038/039