Faszinierende Reibungen
Stefan Bauers "Turbulent Times" in der Altstadtschmiede
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Die Weihnachtszeit kann kommen, wenn erstmal Stefan Bauers alljährliches Weihnachts-Jazz-Special in der Altstadtschmiede eine erste tiefe musikalische Zäsur beschert hat. Zur zehnten Ausgabe dieser Kult-Veranstaltung hatte der in Recklinghausen geborene, in Brooklyn lebende und gerade von einer Mittelamerika-Tournee kommende Vibrafonist eine eine ganz besonders exquisite Besetzung dabei!
„Ich habe einmal mit Jazz angefangen, um mit dem Notenlesen zu entgehen“ bekundet der Vibrafonist Stefan Bauer in der Altstadtschmiede. Ob das ausgiebige Notenmaterial, welches in der Schmiede auf den Pulten türmte, denn dann mit einem „Missverständnis“ zu tun hatte? „Wir hatten gedacht, hier würden wir nach der Menge der Noten bezahlt“ kontert Bauer mit seinem an diesem Abend sehr präsenten trockenen Humor diesen Einwand.
Aber nun Spaß beiseite: Die reichlichen Notenblätter waren ausdrücklich KEINEM pekuniären Kalkül geschuldet – es ist einfach der nie abreißende Fluss an musikalischen Ideen, welche auch mal Notation brauchen, um alles, was in rasanten Ideenflüssen entsteht, festzuhalten! Dass diese Musiker auch noch ganz vieles um diese Noten herum spontan improvisieren und fantasieren versteht sich von selbst – vor allem, wenn die Namen der Besetzung an diesem Abend derart für sich sprechen.
Die Posaune spielt hier Ansgar Striepens der sonst vor allem die WDR-Bigband mit neuem kompositorischen Futter beliefert- und der einst Stefan Bauer das Posaunenspiel näherbrachte (denn Bauer ist eigentlich von kleinauf Posaunist). Komplettiert wird die Formation des Abends von Saxofonist Hugo Read und dem Bassisten André Nendza, einem Echo-Jazz-Preisträger und in Bauers Wahrnehmung einem Mann, „der möglicherweise nie schläft“ angesichts seiner vielen Projekte. Eine Neuentdeckung ist auf jeden Fall der junge Schlagzeuger Younga Sun.
Und um „den“ Jazz ohne Wenn und Aber dafür mit dickem Ausrufezeichen geht es hier. Erfahrbar wird, wie vielschichtig und reich an unterschiedlichen Stimmungen und Kontrasten ein Abend auf so einer Grundlage sein kann. Das ausgiebige Notenmaterial ist halt der überbordenden Ideenfülle geschuldet, mit der sich Stefan Bauer und seine kongenialen Mitstreiter an diesem Abend spielerisch vernetzen. Was diese Combo bei aller Komplexität hinlegt, hat federnden Swing und treibt gut geölt nach vorne. Bauers Vibrafon koordiniert die harmonische Grundfarbe. Read am Altsax und Ansgar Striepens auf der Posaune stehen in engem Bezug zueinander. Soli voller Leuchtkraft gehen aus diesem dicht verzahnten Miteinander hervor.
Die Bandbreite bei den Stücken, die gleichberechtigt von allen Mitgliedern kommen, ist immens. Es gibt dabei auch mal eine sphärische Klangmeditation auf Grundlage einer Tonskala von Olivier Messiaen. Kein Auge bleibt trocken, als Ansgar Striepens alle Register in Sachen herzzerreißender Growl-Effekte zieht – um lautmalerisch einen Wolf endlos lange in die Nacht heulen zu lassen.
Die Verabschiedung des treuen Publikums erfolgt viel später mit einem temperamentvoll akzentuierten Stück – voller Ecken und Kanten, gespickt mit Polymetrik und regelrecht sportlichen Intervallsprünge: „Worlds Collide“ heißt eine Komposition von Stefan Bauer.
Diese welterfahrenen Musiker wissen, Klänge und instrumentale Sprachen virtuos miteinander kollidieren zu lassen. Jeder für sich, aber alle gemeinsam. Und gerne im reibungsvollen Diskurs!