Siebzig Jahre Konzertreihe Musik der Zeit
Neue Musik als Inspirationsquelle
TEXT: Uwe Bräutigam | FOTO: WDR Claus Langer
In Köln ist der Einfluss der Neuen Musik auf die Jazzszene und improvisierte Musik besonders ausgeprägt, aber auch über die Stadt hinaus hat die Neue Musik den Jazz stark beeinflusst. Das lässt sich an einzelnen Personen festmachen, wie Gerd Dudek und Wolfgang Schmidke, die mit Bernd Alois Zimmermann zusammen gearbeitet haben oder Hugo Read , der als Interpret neuer Musik an Uraufführungen, Konzerten und Einspielungen von Werken von Karl-Heinz Stockhausen beteiligt war und heute Professor für Saxophon und Ensembleleitung an der Folkwang Universität ist. Mit Holger Czukay und Irmin Schmidt waren zwei Stockhausen Schüler Mitglieder der experimentellen Rockband Can, eine der einflussreichsten deutschen Bands überhaupt. Man kann aber auch das Programm der diesjährigen Week of Surprise im Kölner Stadtgarten heranziehen, um zu zeigen welche Rolle elektronische Musik dort spielt. Auf dem diesjährigen Multiphonics Klarinetten Festival gab einen eigenen Bereich mit zeitgenössischer Musik. Dies sind nur einige unsystematisch herangezogene Beispiele. Alle die die Szene der improvisierten Musik in Köln und darüber hinaus kennen, wissen um die vielen personellen und musikalischen Schnittstellen mit der Neuen Musik. Es ist deshalb ausgesprochen lohnenswert, die Entwicklungen und Tendenzen der Neuen Musik zu beobachten, will man die neuen Entwicklungen in der Improvisationsmusik und im Kreativen Jazz besser verstehen. Der folgende Bericht soll einen Beitrag dazu leisten.
Das Köln sich zu einem Zentrum der Neuen Musik in der Nachkriegszeit entwickelt hat, hängt sehr direkt mit dem WDR (damals noch NWDR) zusammen. Unter dem Einfluss der Westmächte, insbesondere der USA wurde Neue Musik als ein Aushängeschild gegen die restriktive Kulturpolitik des Ostblockes gefördert. Es gab eine regelrechte Kulturoffensive. Der CIA finanzierte Ausstellungen moderner amerikanischer bildender Künstler in Europa, ebenso wie Tourneen von Jazz Big Bands. Für die Neue Musik, Jazz und moderne Kunst war der kalte Krieg der Supermächte ein Segen, der Arbeitsmöglichkeiten und Kunstfreiheit verhieß. So wurde auch die Neue Musik in den Rundfunkanstalten stark gefördert. In Köln wurde vom WDR am 8. Oktober 1951 die Konzertreihe Musik der Zeit ins Leben gerufen, die immer noch existiert und nun ihren 70. Geburtstag feiert. Das erste Konzert der Reihe fand im großen Sendesaal des WDR unter der Leitung von Igor Strawinsky statt. Diese Langzeit Konzertreihe war ein wichtiger Förderer der Neuen Musik. Junge Komponist*innen wurden durch Kompositionsaufträge gefördert und bekamen die Möglichkeit mit einem großen Orchester zu arbeiten, dem WDR Sinfonieorchester. Die Reihe hat immer Tendenzen und Entwicklungen in der Neuen Musik in ihrem Programm abgebildet. Wer die Programme von Musik der Zeit durchsieht, der findet eine Geschichte der Neuen Musik der letzten Jahrzehnte. Aber die Reihe war weit mehr als eine Ansammlung von aktuellen Konzerten. Sie hat Bezüge und Querverbindungen innerhalb der Neuen Musik, aber auch zur alten Musik, hergestellt. Nicht zuletzt hat sie auch die Musiker*innen des WDR Sinfonieorchesters an die Neue Musik herangeführt und damit auch einen wichtigen Klangkörper mitgeformt, der diese Musik umsetzen konnte.
Zum 70. Geburtstag von Musik der Zeit hat der Kurator und Redakteur Harry Vogt ein sehr originelles Festprogramm zusammengestellt. Dass, die Planung und Realisierung eines solchen Programms unter Pandemie Bedingungen nicht einfach war, muss nicht betont werden.
Das Programm bestand aus vier Teilen und dauerte von 16 Uhr bis Mitternacht. Den Einstieg für das Publikum machten zwei Installationen. Britta Muntendorf hat ein Portrait des Pianisten Duos Grau Schumacher als Video Installation erstellt mit dem Titel: Theater des Nachklangs. Die Installation basiert auf einer Trilogie, die Muntendorf für das Duo geschrieben hat. Die zweite Installation stammt von Manos Tsangaris. Er wählte das berühmte Paternoster als Ort, das schon eine Rolle in Heinrich Bölls Hörspiel Doktor Murkes gesammeltes Schweigen spielte. So fahren verschiedene Personen in diesem offenen Aufzug, tragen Schilder, sprechen oder spielen Akkordeon. Der Aufzug als bewegliche Bühne.
Nach diesen Appetithäppchen, die das Publikum eingestimmten, begann das Festkonzert im Großen Sendesaal unter Leitung von Enno Poppe. Auch Enno Poppe ist Komponist und Dirigent, ebenso wie sein berühmter Vorgänger Strawinsky. Am Programm des Konzertes ist die “Corona Planung“ noch sichtbar. So waren zur Eröffnung mit dem Werk Initiale von Pierre Boulez (1987/2010) nur sieben Blechbläser auf der Bühne. Ein kurzes Stück das einen kreisenden Sound hat und als eine Art Einleitungssignal fungierte. Während im folgenden Werk von Iannis Xenakis Symos (1959) nur 18 Streicher auf der Bühne waren. Das dritte Werk, eine Uraufführung, von Klaus Ospald, ist für Klavier und Bläser. Das Werk Se da cotra las piedras la libertad (2020/21), basiert auf Texten von Miguel Hernández und war eine Auftragskomposition des WDR.
Auch das letzte Werk des Festkonzertes Recordare (2021) von der litauischen Justé Janulyte war eine Auftragskomposition. Hier ist neben dem Sinfonieorchster auch der Rundfunkchor des WDR auf der Bühne. Chor, Bläser und Streicher bilden mit ihren unterschiedlichen Klangfarben eine Mikropolyphonie. Wie das Anschwillen eines Sturmes baut sich das Stück auf, dann bleiben Chor und Orchester in der Fülle des Sturmes und dann ebbt der Klang langsam ab und löst sich auf. Ununterbrochen klingt das Wort Recordare – Erinnern durch die Stimmen des Chores, bis es sich verflüchtigt. Ein stimmiges Festkonzert, nicht museal, sondern Musik der Zeit.
Der nächste Teil des Festabends war der spannendste und innovativste. Ein Rundgang in kleinen Gruppen zu sechs Veranstaltungsorten, die Teil der Kölner Kulturlandschaft sind. In der Artothek benutzt die Schlagzeugerin Vanessa Porter ihren eigenen Körper als Schlagzeug und setzt dabei ihre Stimme ein. Im Baptisterium des Kölner Doms sitzt das Publikum im Halbdunkeln und an den vier Raumecken sind Mitglieder des Schlagquartett Köln und spielen ein Werk von Matthias Kaul. Im Domforum erklingt auf der Empore ein Chor mit Giacinto Scelsis Tre canti sacri. Die Galerie Karsten Greve ist der Spielort der Geigerin Karin Hellqvist, die das Stück Doppelbelichtung von Carola Bauckholt mit eingespielten Samples spielt. Im Senftöpfchen erklingt ein Stück von Mauricio Kagel mit zwei Cellistinnen und einem Schlagwerker am Vibraphon. Die Konzertkasse der Philharmonie ist der Ort für Stücke von Bernd Alois Zimmermann, Peter Aiblinger und John Cage. Zum Cage Stück Music fort wo tritt auch ein Tänzer auf. Der Rundlauf ist ein Streifzug durch kleine Formen der Neuen Musik, gleichzeitig ein kleiner Streifzug durch die Umgebung des Kölner Doms. Unterwegs begegnen die Gruppen einem Trompeter und einer Schlagzeugerin. Neue Musik an ungewöhnlichen Kulturstätten, als Teil der Stadtgesellschaft.
Den Abschluss bildete ein Nachtkonzert mit elektronischer Musik in der Kölner Philharmonie. Ein Verweis auf das Studio für elektronische Musik des WDR, das von 1952 bis 1986 bestand, das weltweite erste seiner Art, dessen langjähriger Leiter Karl-Heinz Stockhausen war. Und von Stockhausen war auch das letzte Werk der Nachtmusik, Mikrophonie (1965), für einen Chor aus sechs Sopranen und sechs Bässen und einer Hammondorgel, heute ein Keyboard. Über einen Ringmodulator werden die Frequenzen der Singstimmen und die Orgel verändert und über Lautsprecher eingespielt. Damit erreichte Stockhausen, dass eine Musik die andere moduliert. Ein wegweisendes Stück elektronischer Musik.
Damit endete ein Erlebnismarathon Neuer Musik an unterschiedlichen Orten, der sich über fast acht Stunden erstreckte. Wer noch nicht genug hatte, konnte noch die ganze Nacht im WDR Hörfunk bis um 6 Uhr in der Früh weiter Neue Musik hören.
Aber das wichtigste ist natürlich das die Konzertreihe Musik der Zeit weitergeht:
TETRAS 30.10.21 um 20 Uhr WDR Funkhaus, Klaus-von-Bismarck-Saal
SCHRAUBEN 21.12.21 um 20 Uhr, WDR Funkhaus, Klaus-von-Bismarck-Saal
Infos: wdr3.de