Forschender Geist als Lebenselixier
Nils Wogram im Portrait
TEXT: Uwe Kerkau | FOTO: Corinne Haechler, Ulla C. Binder
Nils Wogram spielt mit seinem Nostalgia Trio am 8. November im Loft Köln, am Tag darauf in der Essener Philharmonie. Vorher am 7. November feiert er seinen 50. Geburtstag.
Ob er selbst das so wahrhaben will oder nicht – der Posaunist Nils Wogram gehört zu den entscheidenden Triebkräften des deutschen und europäischen Jazz. Das muss einfach mal gesagt werden. Nicht nur weil er bei den Pionieren des deutschen Jazz in die Lehre gegangen ist, mit zahlreichen Bands und Projekten seine unverwechselbare Handschrift als Spieler, Komponist und musikalischer Vordenker eingebracht und damit eine Vielzahl anderer Musiker motiviert hat, es ihm gleichzutun, oder seinen reichen Erfahrungsschatz inzwischen an Legionen jüngerer Jazzmusikerinnen und -musiker weitergibt, sondern weil er mit seiner Persönlichkeit und seinen zahlreichen Veröffentlichungen ganz unterschiedlicher Couleur dabei ist, ein Gesamtwerk zu schaffen, das in jeder einzelnen Phase höchste künstlerische Ansprüche mit den Herausforderungen und Gegebenheiten des Alltags verbindet.
Nils Wogram Root 70 in Leipzig September 2020
Mehr müsste man über Nils Wogram eigentlich gar nicht sagen, doch der Posaunist wird 50, und das gibt dann doch mal Grund zum Innehalten und Vor- und Zurückschauen. Wo andere in ihrem Leben anfangen, Bilanz zu ziehen, hat Wogram einen vorläufigen Höhepunkt erreicht, auf dem er Errungenes einsammeln und neuen Gipfeln entgegen tragen kann. In der Vollkraft seines Schaffens findet er sich an seinem Fünfzigsten genau in der Mitte seines künstlerischen Lebens wieder. Ohnehin kommen Fragen von Gestern und Morgen für Wogram nur insofern zum Tragen, als alles, was er je geschaffen hat, immer ein Versprechen in die Zukunft war. Wogram ist bescheiden im Auftreten, aber grenzenlos in seinem Anspruch an sich selbst. Jede Form von Bequemlichkeit und Selbstzufriedenheit geht ihm ab, die eigenen Lorbeeren bedeuten ihm nichts. Was gesagt wurde, ist gesagt. Was gibt es darüber hinaus zu sagen?
„Einen forschenden Geist zu behalten, Dinge auszuprobieren, ins Risiko zu gehen und sich von Misserfolgen nicht abhalten zu lassen, weiterzugehen, ist doch ein Lebenselixier“, ruft er aus, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Wenn man das aufgibt, wird es echt langweilig. Dann ist Frustration unausweichlich. Man könnte annehmen, dass bei meinem Bekanntheitsgrad viele Prozesse Selbstläufer sind, die Veranstalter einem die Tür einrennen und die Gagen immer höher werden. Und es ist nicht immer leicht zu akzeptieren, dass es trotz einer Position wie meiner immer noch schwierig ist. Das große Geschenk aber besteht darin, dass ich Musik machen und meine Inhalte selbst bestimmen darf. Auf diese Autonomie will ich keinesfalls verzichten.“
Nils Wogram ist noch lange nicht soweit, das Erbe seiner Errungenschaften zu verwalten. Es geht ihm allein um Inhalte. Wo andere, auch sehr berühmte Protagonisten der Jazzgeschichte ihr Lebenswerk bereits mit Mitte 30 formuliert hatten und sich mit hochwertiger Wiederholung genügen, steht Wogram immer am Anfang. Sein Treibstoff ist die Neugier. Das heißt nicht, dass er gerade mit Langzeitprojekten wie seinen Bands Root 70 oder Nostalgia nicht auch Reifeprozesse durchleben würde, aber er weiß genau, welches Gepäck er mitnehmen kann, welches er abwerfen muss und welches er neu aufnehmen darf. „Ich muss jeweils beurteilen können, wo es mich künstlerisch hinzieht und was mich überzeugt. In Zeiten, in denen Erfolg über Klickzahlen messbar ist, besteht eine große Versuchung, seinen Beliebtheitsgrad über die Bedienung von Erwartungen auszubauen. Das wäre für mich aber der Anfang vom Ende. Um flexibel zu bleiben, muss man sich immer wieder neu erfinden, den Zoom öffnen, sich in Frage stellen und in bestimmten Fällen auch mal belehren lassen.“
Und es gibt nichts, das Wogram in seinem eigenen musikalischen Koordinatensystem nicht hinterfragen würde. Das betrifft den Sinn einer Arbeit mit festen Bands genauso wie die Suche nach neuen Projekten. Selbst Zweifel und Verunsicherungen weiß er produktiv umzusetzen. Dabei kann er seinem inneren Kompass vertrauen, aber ein Kompass ist eben immer nur ein Richtungsanzeiger. Ein Ziel erkennen und zu diesem aufbrechen, muss man immer selbst. Diese offene und inklusive Zielstrebigkeit zeichnet Wogram aus. Je mehr Rückhalt er im Vertrauten findet, desto mehr Freiraum ergibt sich für ihn im Experiment.
Zum Jazz kam Nils Wogram über die Plattensammlung seines Vaters. Aus den Linernotes der Platten saugte er alle verfügbaren Informationen über die Persönlichkeiten, die sich hinter der Musik verbargen. So wurde ihm schon früh bewusst, worauf es im Jazz letztlich mehr als alle virtuose und kompositorische Raffinesse ankommt: auf Persönlichkeit und Individualität. „Mir wurde bewusst, dass all diese Musiker eine Message hatten. Was das für eine Botschaft war, konnte ich damals noch nicht sagen. Aber aus ihrer Musik sprach eine Lebenshaltung, eine Art von Widerstand, die mir wichtig erschien. Die Unkorrumpierbarkeit ihrer Grundhaltung faszinierte mich. Diese Haltung fand ich dann später wieder bei den Dozierenden im BuJazzO oder den Landesjazzorchestern. Musiker, die jenseits der musikalischen Skills eine Lebenshaltung verinnerlichen, die sie in ihrer Musik transportieren.“
Diese innere Überzeugungskraft, die ihn als jungen Jazzmusiker formte, hat Wogram sich auch als 50-Jähriger bewahrt und um viele Facetten ausgebaut. Aus der Summe seiner musikalischen Vorbilder kondensierte er seine eigene Ansprechhaltung. Die Frage nach dem Moment, sich von seinen Vorbildern abzukoppeln hat sich für ihn nie direkt gestellt, denn dieser Prozess erfolgte fließend und brauchte Zeit. Erst auf seinem Album „Round Trip“ (1996) gelangte der damals 24-Jährige an den Punkt, sich von seinen musikalischen Ziehvätern abzunabeln. Den größten Sprung ins eigene Vokabular wagte er aber mit der Gründung der Band Root 70 mit Saxofonist Hayden Chisholm, Bassist Matt Penman und Schlagzeuger Jochen Rückert. „Aufgrund der Persönlichkeiten in der Band musste ich meine manchmal sehr festgefahrenen Vorstellungen über Musik allgemein oder ein konkretes Konzert über Bord werfen. Ich brachte Stücke mit, die spielten sie, wie sie sie spielten, und obwohl ich es mir vorher anders vorgestellt hatte, musste ich erkennen, dass es so viel besser war. Ich begann mich viel mehr mit einem Bandsound zu beschäftigen oder einen Zoom zu entwickeln, mit dem ich mich in bestimmte Themen hineinwage.“
Das Wort Risiko wird von Jazzmusikern grundsätzlich gern in den Mund genommen. Eingelöst wird es deutlich seltener. Bei aller Reife, die das Leben als kreativer Künstler unweigerlich mit sich bringt, hat sich Nils Wogram eine radikale Verspieltheit bewahrt, welche die Gefahren, die sich mit jedem Schritt ins Risiko verbinden, erst einmal ausblenden. Wenn ihn eine Idee, ein Thema, eine Aussage packt, setzt er sie um, komme, was da wolle. Evaluiert wird später. Aus jeder Produktion zieht Wogram persönliche Erkenntnisse, die das eigene Spiel wieder anreichern. Auf diesem Weg nimmt er auch Rückwege und Umleitungen in Kauf. Nur Stillstand ist für ihn unakzeptabel.
Die Vielzahl seiner Bands und Projekte aufzuzählen, würde den Rahmen dieses Porträts sprengen. Root 70 und Nostalgia wurden schon genannt, das Vertigo Trombone Quartet und seine neue kammermusikalische Formation Muse seien stellvertretend für andere erwähnt. Neben all seinen musikalischen Aktivposten gibt Wogram aber auch als Leiter und Kurator des Labels nWog anderen Musikern innerhalb seines Universums die Möglichkeit, ihre Statements zu veröffentlichen. Dazu muss ihm nicht jede Sekunde der auf nWog veröffentlichten Produktionen gefallen. „Meine Aufgabe besteht viel mehr darin, ein Potenzial zu erkennen, es mit meinem eigenen Geschmack abzugleichen und dann Möglichkeiten zu öffnen, die Andere nicht schaffen würden, weil ihnen dafür die künstlerische Expertise fehlt. Ich bin ja selbst Musiker und sehe die Künstlerinnen und Künstler, die auf meinem Label veröffentlichen, auch immer aus dieser Perspektive. Der Respekt vor der Unabhängigkeit dieser Musikerpersönlichkeiten ist mir wichtig. Ich muss sie nicht belehren, sondern kann ihnen vertrauen. Einer Luise Volkmann kann ich auch dann vertrauen, wenn es sie musikalisch in eine ganz andere Richtung zieht. Auch in dieser Hinsicht gehe ich gern ins Risiko. Dabei hilft es natürlich ungemein, dass ich vom Verkauf der Alben wirtschaftlich nicht abhängig bin.“
Nils Wogram wird 50. Na und? In zehn Jahren wird er 60. Ändern wird das gar nichts, außer dass sein Erfahrungsschatz noch reicher und die Palette seiner Vorhaben noch größer ist. Denn gemäß der markanten Anfangszeile eines Liedes von Bertold Brecht gibt es für den passionierten Macher Nils Wogram nur eine Losung: Vorwärts und nicht vergessen!
Uwe Kerkau
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