Tamara Lukashewa

Die Sängerin und Pianistin Tamara Lukasheva durchmisst den Jazzkosmos von Ost nach West mit Riesenschritten. In Odessa kurz vor dem Zusammenbruch der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, der ehemaligen Sowjetunion, geboren und in einer Musikerfamilie aufgewachsen, verkörpert sie den Prototyp einer neuen Generation von Musikerinnen und Musiker.

Nach ersten musikalischen Ausbildungen in ihrer Geburtsstadt, wechselt sie 2010 nach Köln. Gründet hier ohne größere Anpassungsprobleme, ambitioniert und engagiert ein Quartett. Tourt in verschiedenen Besetzungen durch Europa und Mittelamerika sowie immer wieder auch durch ihre ukrainische Geburtsheimat. 2021 erhält sie einen der bedeutendsten deutsche Jazzpreise, den WDR-Jazzpreis fürKomposition. Zeitgleich hat sie jetzt ihr Soloalbum Gleichung veröffentlicht.

Gleichung klingt für einmal mehr nach Arithmetik und Mathematik, als nach Melodie und Kontrapunkt. Ihrem Selbstverständnis nach dekliniert Gleichung Befindlichkeiten von ausgeglichen sein, sich in einer inneren Balance befinden, Gleiches und Anderes miteinander verbinden. In Vertonungen von Gedichten und extrahierten Versen mit romantik-affinem Sentiment (Brentano, Rilke und Novalis) über Theodor Fontane mit poetischem Welt-Räsonieren sowie Hildegard von Bingen mit mystischer, mittelalterlicher Verklärung identifiziert sie sich mit der deutschen Kulturtradition.

Neben diesen lyrischen Avancen findet Lukasheva in der Dichterin, Journalistin und der sozialistischen Frauenrechtlerin Clara Müller-Jahnke (1860 – 1905) eine politisch ambitionierte Protagonistin mit poetisch malendem Gestus. Ich bin eine echte Jazzseele - immer eine Symbiose, eine Mischung verschiedener Kulturen.

Allein dieser sachlichen Aufzählung der Autorinnen und Autoren wohnt schon etwas geheimnisvoll Ungewöhnliches inne. Dass sich auf der CD mit dem Gedicht Neue Alte Häuser der 2010 17jährig verstorbenen Asja Klimanova nur eine einzige Reminiszenz an die Ukraine findet, kann als Hinweis dafür gelten, wie weitgefasst inzwischen ihr musikalischer Inspirationshorizont ist.

Er verbindet Formen des Kunstlieds mit dem Scat-Gesang des amerikanischen Gospels. Brentanos Singet-leise-Auftakt im Pianissimo umschwirrt den Mondschein in improvisierten Ahs und Ohs. Gleichsam, als würden in einer Eisnacht Wassertropfen erstarren, flüstert und haucht ihreStimme, als würde sie Müller-Jahnkes Gedicht neu beatmen. Dass die ukrainische Dichterin an Influenza, einer Virusgrippe gestorben ist, für gewöhnlich nichts mehr als eine biografische Notiz, erscheint in der aktuellen Pandemie-Zeit wie ein Menetekel.

Interludium, Stimme stellt die Stimmung ohne Worte dar, ist der folgende Track lakonisch, fast ist man geneigt zu sagen, konsequent und unüberhörbar bezeichnet. Gleichung ist von Track zu Track eine immer wieder neu justierte Rechnung mit unbekannt Bekanntem. Eben noch kreisten Rilkes Assoziationen um Gott, von ihr mit betonter Erzählstimme in ein leidenschaftliches Scattering-Rauschen überführt: Bin ich ein Falke, ein Sturm oder ein großer Gesang.

Nachdenklich nachhallend durchschweben Stimme, Gesang und Klavier mit dezidierten Akkordbrechungen von Die Erde bis hoch zu den Sternen, die Hildegard von Bingen aus dem allmächtigen Universum zu einem Friedenskuss für alle erhöhen möchte. Song for Anna, stellvertretend allen Annas gewidmet, gestaltet Lukashevas diesen Anna-Syllogismus mit Hauchlauten und stimmlosen Artikulationen als unendliches Suchen und Finden.

Wie ein roter Faden zieht sich durch Gleichung eine Poesie ohne Worte. Stimme und präpariertes Klavier umkreisen einen Kosmos des Menschlichen. Die Frage bleibt - nicht nur in Fontanes Gedicht. Trotzig und vehement, leise und zärtlich klingt es in Lukashevas musikalisch reflektiertem Welterleben.

Eine Gleichung mit Rätseln und offenen Fragen. The music of the future, wie das Label wismART nicht scheut, selbstbewusst ohne Wenn und Oder zu formulieren. Lukasheva ist dafür eine überzeugende Botschafterin.