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Stefan Bauer

Geographia

Recklinghausen, 01.01.2014
TEXT: Ingo Marmulla | FOTO: Ingo Marmulla

Welche Kriterien entscheiden über "guten" Jazz? In der Tat ist dies keine einfache zu beantwortende Frage. Man wird vergeblich nach einer griffigen Formel suchen. Für mich persönlich gibt es in diesem Zusammenhang drei Momente, die bei einer betrachtenden Beurteilung hilfreich sind: Authentizität, Qualität und "Adresse".

Und nach erstem Hören Stefan Bauers neuer CD "Geographia" bewogen mich diese drei Aspekte zu einem positiven "Urteil". Ja, mir gefällt die CD gut! Wer Stefan Bauer kennt, weiß, dass er schon seit vielen Jahren an vielen Orten der Welt Musik gemacht und erfahren hat. So hat die Band bezeichnender Weise den entsprechenden Namen: Voyage. Die Namen der Musiker weisen in ebenso in unterschiedliche Himmelsrichtungen – Amerika, Europa, Asien ... Und wenn Stefan sagt, dass die CD das Thema "Reisen" beinhaltet – gemeint sind sowohl innermenschliche als auch transkontinentale Reisen –, dann weiß man, dass dies keine "künstlich erfundene" Thematik ist. Ja, man fühlt sich von seiner Musik eingeladen, an der musikalischen Reise teilzunehmen. Belohnt wird man bei genauerem Hinhören mit fantasievollen Themen, einfühlsamen, aber ebenso kraftvollen Improvisationen und spannenden Rhythmen. Alles in allem hat die CD die richtige Mischung aus Unterhaltung und Tiefgang. Gratulation!

Dennoch ist es schön, wenn man noch ein wenig mehr über die Musik erfahren kann. Dies konnte ich auf einer kleinen Party, auf der wir in Stefans Geburtstag hinein feierten. Ja, er sei ein bekennender Programmmusiker, sagte er mir. Denn die Kompositionen sind vom Titel her fast alle programmatisch. Warum sonst sollte man eine Komposition "Coney Island" nennen, wäre da nicht der persönliche Bezug zu dieser New Yorker Halbinsel. Es lohnt sich die zugrunde liegende "Programme" ein wenig zu beleuchten. Den ein wenig mehr an Informationen schafft eine bessere Verständnisgrundlage. Was ich über den Ursprung oder die Beweggründe der Musik erfahren konnte, will ich hier zu einigen Stücken mitteilen.

"Luna Park" ist ein historischer Vergnügungspark im südlichen Brooklyn, Stefans Wahlheimat. Dem Titel liegt ein tatsächlicher Parkbesuch mit seinen Kindern zu Grunde. Wenn man es weiß, hört man die Stimmen der Parkbesucher und am Ende des Stückes die legendäre Holzachterbahn. Zwischen dieser Klangkollage nehmen wir Marimbaakkorde und ein Sopransaxophon wahr. Das Sopran spielt kurze Staccato-Melodien auf einem freien rhythmischen Klangteppich, der sich ohne festes Taktschema bewegt. Die Melodiefloskeln wirken wie Farbtupfer auf einer akustischen Leinwand. Übergangslos geht die Musik in "Coney Island" über, jener südlich am Meer gelegene Teil von Brooklyn, in dem der Park zu finden ist. Wir hören das Vibraphon mit dem gleichen Akkordmotiv, das nun aber in einem 6/8 Takt die Grundlage für das erste Thema, vorgetragen von Stimme (Michal Cohen) und Sopransax (Chris Bacas), bildet. Begleitet von Pepe Berns (Bass) und Roland Schneider (drm) beginnt Cohan mit einem freien expressiven Vocal-Solo. Stefan improvisiert anschließend über das erneut vorgetragene Thema um schließlich zum Marimbaphon zu wechseln. Nach einem mehrmals erklingenden 5/8 Motiv endet der erste Teil der Komposition mit einem Break, der mit einem 7/8 Takt und gleicher Motivstruktur beantwortet wird. Nun erhält das Saxophon Gelegenheit zu einer ausgedehnten Improvisation. Diese Art von Struktur erfordert schon eine gewisse Portion analytisches Hören, will man sich inhaltlich der Musik nähern. Trotz der freien melodischen Anlage ist der Gesamtklang durchaus angenehm. Auch wenn man die häufigen Taktwechsel nicht verfolgt, kann der Fuß mit wippen ... Dies ist eben eine gelungene Mischung aus Qualität und Unterhaltung. Wobei die verwobenen, "ungewöhnlichen" Taktarten nicht mechanisch wirken, sondern, wie Stefan betont, aus einem spontanen und emotionalen Komponieren heraus entstehen.

"From Afar" beginnt wiederum mit Zug- bzw. Straßengeräuschen, die musikalisch unterlegt werden mit statischen Schwebeklängen, Flageolets und gestrichenen Becken. Nun hören wir Stefans Frau Wageye über den Tod ihrer Mutter sprechen. Diese Information ist nicht unwichtig, knüpft doch die folgende Ballade "Askale Tulem" – so der Name der verstorbenen Mutter – direkt an die Einleitung an. Trauer und Mitgefühl klingen gleich zu Beginn des Ostinatos an. Lange getragene Töne unterstützt von afrikanischer Perkussion des langjährigen musikalischen Weggefährten Christoph Haberer, der hier auch als Supervisor agiert, formen den musikalischen Grund der Komposition aus. Hier steht zunächst auch kein Solist im Vordergrund, sondern, angestimmt durch ein absteigendes Themenmotiv, die kollektive Trauer,"dargestellt" durch verwobene Tonfolgen mit Pausen und einem ergreifend mitfühlenden Gesang Michal Cohens.

Mit "Seymour's kitchen" erklingt ein eher dem Leben zugewandtes Stück. Eingeblendet in freie Klänge von Sopran und Vibraphon in einer ganz ungezwungenen freien Frage- und Antwortform hören wir einen "älteren Herren" über das Leben sprechen. Wir hören Worte des gemeinsamen Freundes von Chris und Stefan, den sie regelmäßig besuchen, um mit ihm über Lebensfragen zu plaudern.

"Im Licht der Sterne" führt uns wieder weg von Irdischen in einen orbitalen Raum, der durch sphärische Klänge erzeugt wird, durchzogen von Saxlinien, die man sich wie Sternschweife vor Augen führen kann. Man ist an György Ligeti oder Steve Reich erinnert. Hier stehen Titel und Musikstück wahrlich in einem programmatischen Verhältnis zu einander. Die Komposition leitet nach einem Thematisch rhythmisierten Finale über zu "New Shores", dem neuen musikalischen Landepunkt. Sehr verspielt und heiter hören wir ein Thema, das offensichtlich nicht nur mich an "What Game shall we play Today" von Chick Corea erinnert. Man hört eine musikalische Seelenverwandtschaft, die der Freude beim Hören des Stückes keinen Abbruch tut, sondern belebend und erfrischend wirkt. Dem Thema, im eher seltenen "geraden" Takt, folgt ein ausgiebiges, kraftvolles Basssolo von Pepe Berns, der hier Gelegenheit hat, seine ausgefeilte Technik zur Geltung zur bringen.

Und immer stehen zwischen den thematisch ausgearbeiteten Stücken akustische Stimmungsbilder, wie "Pangea". Bekannt, als ein Urkontinent unseres Planeten, der auseinanderdriftete, um Platz für den Atlantischen Ozean zu machen, entpuppte sich "Pangea" auf meine Nachfrage hin als ein Meditationszentrum in New York, in dem auseinander gedriftete Seelen wieder zur Einheit geführt werden sollen – auch eine interessante Information für den Hörer. In diesem Sinn erklingt folgerichtig eine folkloristisch, tänzerische Musik von Cohen: "Aluva". Wir deutlich die musikalischen Wurzeln der Sängerin, die mit "orientalischen" Verzierungen, unterstützt von perkussiven Trommeln, die musikalische Welt des Nahen Ostens aufleben lässt.

Wollte man jedes Stück der CD unter die "Lupe" nehmen, würde das den Rahmen dieses Artikels sprengen, ich empfehle daher, sich die Musik anzuhören! Diese entstand glücklicher Weise, als Stefan mit seiner Band, anstelle ein "teures" Clubkonzert in Berlin zu geben, ins Kölner Studio ging, um für uns diese Klänge auf Tonträger fest zu halten. Gespannt dürfen wir schon auf den Herbst sehen, wenn es Stefan hoffentlich gelingt, mit seiner Band Voyage nach Deutschland zu kommen, um diese CD live zu präsentieren.

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