Reimer von Essen: Talking Hot
Geschichte des traditionellen Jazz in Deutschland
TEXT: Heinz Schlinkert |
Traditioneller Jazz führt ein Nischen-Dasein in der Jazzwelt. Das will Reimer von Essen mit seinem Buch ‚Talking Hot‘ ändern, in dem er über gut 200 Seiten eine Übersicht über die Entwicklung gibt. Der Autor ist nicht nur Theoretiker, er spielt auch Klarinette und leitet die Frankfurter Barrelhouse Jazzband, mit der er schon 1966 die gleichnamige LP Talking Hot aufnahm.
Ich hab mich gefragt, um welchen Gegenstandsbereich es in dem Buch geht. Genannt werden Begriffe wie Hot (Jazz), traditioneller Jazz, klassischer Jazz, Dixieland, ‚alter Jazz von New Orleans bis Swing‘. Gehört der Swing nun dazu? Wenn ja, was ist dann mit Swing gemeint?
Der Herausgeber berichtet, dass der Begriff Hot Jazz erst 1965 aufkam und damit im Frankfurter Raum nur ein kleiner Teil der traditionellen Jazzszene gemeint war. Diese Gruppe grenzte sich klar vom Dixieland ab, spielte aber auch Blues. Was ist denn nun unter Hot Jazz zu verstehen? Ich meine, man sollte die Begriffe genauer klären, damit man weiß, worüber man spricht. Die Grenze zum Swing ist jedenfalls nicht erkennbar.
- Aufbau des Buches: Jazz nach Regionen
Interessant und relevant ist das Thema für die Jazzgeschichte allemal. Es geht vor allem um konkrete Jazzaktivitäten vor Ort. Dazu ist das Buch in mehrere Kapitel untergliedert, die jeweils von verschiedenen Autoren geschrieben wurden. Dabei kann es um einzelne Bundesländer gehen wie Bayern und NRW oder um Regionen wie ‚Menschen und Szene in Rheinlandpfalz und an der Saar‘; West- und Ost-Berlin, ‚Jazz von der Obrigkeit beargwöhnt‘ (Ostdeutschland) u.a.
Andere Kapitel wie ‚Der Jazz aus New Orleans erobert die Welt‘ und ‚After you‘ve Gone, die Zukunft des traditionellen Jazz in Deutschland‘ bemühen sich um einen Gesamtüberblick. In dem Kapitel Life on the Road schwelgt Trevor Richards dann aber auf mehreren Seiten in Erinnerungen von Konzertreisen rund um die Welt – was hat das mit Hot Jazz zu tun?
Dieses Buch liest man nicht unbedingt von vorne bis hinten in einem Zug durch. Ich würde es eher als eine Art Nachschlagewerk sehen. Es handelt sich um sehr viele spezielle Angaben zur Verbreitung und Geschichte des traditionellen Jazz in Deutschland. Jeder Artikel beginnt mit einer kleinen Einleitung, die sich allerdings manchmal anhört wie ein Text aus einem Werbeprospekt.
Im Kapitel 'Von der Werra bis zur Bergstraße' geht es um Hessen und insbesondere um Frankfurt. Der Herausgeber ist hier selbst der Autor. Er stellt relativ kurz die historische Entwicklung dar, geht dann aber auch auf musikalische Aspekte ein. So erklärt er, wie der Begriff Hot Jazz entstanden ist und thematisiert unterschiedliche Stile wie z. B. den ‚Modedixieland‘. Anschließend stellt er in einer Übersicht eine Reihe von Bands und Musikern vor.
- Hot Jazz in NRW
Für uns in NRW ist das Kapitel über 'Jazz an Rhein und Ruhr' von Lutz Eikelmann besonders interessant. Es beginnt mit den späten 40er Jahren und schreitet in Jahrzehnten fort. So erfährt man in diesem 20seitigen Kapitel eine große Menge an Details, z. B. über die Gründung von Clubs und Jazzlokalen in Düsseldorf, Köln, Dortmund und anderen Städten. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist, dass die Mehrzahl der Musiker Amateure waren.
Interessant auch, dass die ‚Altstadt Ramblers‘ von Dieter Menz in Düsseldorf sehr gefragt waren und manchmal in bis zu 6 Besetzungen gleichzeitig spielten. I
Ebenfalls interessant, dass solche Bands in den 70ern auch zu Geschäftseröffnungen, Stadtfesten, privaten Feierlichkeiten, für Kaufhäuser und zu anderen Anlässen ihre Music for all locations spielten. Das wir aber nur so berichtet, die Folgen dieser Vermarktung werden in keiner Weise hinterfragt, z. B. in Bezug auf Auswirkungen auf die Musik (was wurde gespielt?) und das Publikum (wie wurde die Musik aufgenommen?). Mich würde auch interessieren, welche Rolle holländische Marching Bands spielten, die oft in NRW auftreten. Waren sie Vorbild oder Motivation für deutsche Musiker?
Diese Aneinanderreihung von Fakten über Bands, Musiker, Clubs, Locations und Festivals hat den Charakter einer Fleißarbeit. Am Ende fehlt der Überblick. Über die konkrete Musik, die gespielt wurde und über das Publikum erfährt man fast nichts. ‚Authentische Spielweisen des New Orleans Revival Jazz‘ werden mal genannt, aber das bleibt alles sehr verschwommen. Gewundert hat mich, dass am Ende plötzlich der Swing einbezogen wird mit dem „ausverkaufte(n) Konzert Dan Barret’s International Swing Party mit zwei der führenden NRW Jazzer Engelbert Wrobel und Chris Hopkins in der Jahrhunderthalle ...“ (S.83). Vorher kaum die Rede davon. Auch Gypsy Swing gehört mit Joscho Stefan dann auf einmal dazu.
Lutz Eikelmann, der Autor des Beitrags über NRW, entschuldigt sich inzwischen im Internet über die unvollständige Darstellung. Mit Recht schreibt er, dass er schon im Buch daraufhin hinwies, dass das Thema Jazz in NRW alleine für ein Buch gut wäre. Gewundert hat mich allerdings, dass an keiner Stelle, auch nicht im Literaturverzeichnis, ein Hinweis auf das Buch von Robert von Zahn* über 'Jazz in Nordrhein-Westfalen seit 1946' zu finden ist.
- „...elementarer Trieb von hohem arterhaltenden Wert“ ????
Erstaunt hat mich der Prolog des Herausgebers. Reimer von Essen beginnt mit einer Polemik gegen Wolfram Knauers Buch ‚Play yourself man. Die Geschichte des Jazz in Deutschland‘. Er lobt zwar Knauers Buch, bemängelt aber die „Einengung des Begriffs ‚Jazz in Deutschland‘ auf den überwiegend modernen Jazz“, sie sei „faktisch falsch und damit ungerecht.“ (S.7). Dahinter könnte ein Gefühl des Nicht-Ernstgenommen-Werdens stehen, denn er ist dann sehr bemüht die Gleichwertigkeit des traditionellen Jazz mit neueren Jazzstilen nachzuweisen:
So gebe die Vorgabe der Akkorde den Zuhörern Orientierung, Dissonanzen würden so vermieden und es würde ein musikalisches Geben und Nehmen ermöglicht. Durch das so geordnete Kollektiv entstehe ein „spezielles Wohlgefühl“. Durch das druckvolle und „besonders rhythmische, manchmal auch gefühlvolle geradezu erotische Spiel“ werde „die Wärme transportiert .., die die Bezeichnung Hot entstehen ließ“ (S. 8). Schön und gut. Esoterisch wird’s aber, wenn Abbi Hübner in seinem Artikel meint:
„Es scheint so, als habe das den Menschen angeborene Gruppenbedürfnis, ein elementarer Trieb von hohem arterhaltenden Wert, am ehesten in dem Gemeinschaftsprodukt Hot Jazz seine künstlerische Entsprechung gefunden.“ ( S.28)
Der 'Trieb' und der 'Wert der Arterhaltung' - ich dachte, solche Begriffe wären längst überwunden. Und gibt es nicht auch woanders Gemeinschafts-Erlebnisse? Mit solchen Formulierungen macht man sich zumindest unglaubwürdig, wenn nicht gar verdächtig.
- Was nicht im Buch steht ...
Wenn man in dem Buch mehr als ein Nachschlagewerk sieht, bleiben einige Fragen offen:
- Warum haben vor allen Dingen Amateure diese Musik gemacht? Oder andersherum: Warum haben die meisten Profis keinen traditionellen Jazz gespielt?
- Was weiß man über das Publikum? Altersgruppen, Bildungsstand, Vorlieben, Reaktionen?
- Warum war dieser Jazz besonders offen für die Kommerzialisierung?
- Warum geriet dieser Jazz immer mehr in ein Nischen-Dasein?
Dieses Buch ist auf stabilem Papier gedruckt und enthält viele Fotos. Manchmal erinnert es an eine Illustrierte, die man mit Genuss durchblättern kann. Es füllt eine Lücke und stellt auf der Fakten-Ebene umfassend die Entwicklung des traditionellen Jazz in den Bundesländern dar.
Doch der Herausgeber hätte seinen Autoren klarere Strukturen vorgeben können, um mehr Übersichtlichkeit für den Leser zu schaffen. Auch die Aufnahme weitergehender Fragestellungen wäre sinnvoll gewesen. Vor allem aber fehlt meist die Darstellung der Musik selbst. Das ist ein klarer Unterschied zu Wolfram Knauers Buch, der oft in längeren Passagen einzelne Stücke darstellt und analysiert. Deshalb ist Talking Hot trotz aller Materialfülle nicht – wie vom Reimer von Essen intendiert - eine Ergänzung zu Knauers Buch.
*Robert von Zahn (Hg.): Jazz in Nordrhein-Westfalen seit 1946. Köln 1999
Reimer von Essen (Hrsg.) Talking Hot. Geschichte des traditionellen Jazz in Deutschland
Societaets Verlag
Einband: Gebunden
ISBN-13: 9783955424053
Bestellnummer: 10378376
Umfang: 237 Seiten
Erscheinungstermin: 30.6.2021