Bild für Beitrag: POSITIONEN! Jazz und Politik | „Musik ist nicht demokratisch; Menschen können dies sein.“ (W. Knauer)
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POSITIONEN! Jazz und Politik

„Musik ist nicht demokratisch; Menschen können dies sein.“ (W. Knauer)

Bochum, 25.08.2020
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Jazzinstitut Darmstadt

< „Jazz ist immer politisch …“ Was ist übrig geblieben vom oft behaupteten politischen Impetus und der gesellschaftlichen Relevanz im Jazz der Gegenwart?>

Dieser Behauptung von Mark Turner und der sich anschließenden Frage stellten sich die Referenten des 16. Darmstädter Jazzforums im Oktober 2019. Die Ergebnisse wurden nun unter dem Titel POSITIONEN! Jazz und Politik in den ‚Darmstädter Beiträgen zur Jazzforschung Band 16‘ (hrsg. von Wolfram Knauer) veröffentlicht. Zu den Referenten des Jazzforums zählten Theoretiker wie W. Knauer, N. Neuser, M. Rüsenberg, T. Krüger, M. Dunkel, VeranstalterInnen wie N. Deventer und PraktikerInnen wie A. Niescier; B. Weidekamp und M. Haves von der ‚Brigade Futur III‘ u. a.

Jazz und Politik – da denkt man vielleicht an Charles Mingus, in Deutschland auch an Free Jazz und Peter Brötzmanns Machine Gun. Aktuell haben Bands wie Futur III explizit politische Intentionen, doch das ist wohl eine Ausnahmeerscheinung. Kann der Jazz als Musik überhaupt politisch sein?

Nach der Lektüre des Buchs könnte man angesichts der Fülle der Fakten und Theorieansätze etwas verwirrt sein. Die Referenten setzen in ihren Texten jeweils eigene Schwerpunkte und schweifen oft von der ursprünglichen Fragestellung ab. Um einen Überblick zu geben, versuche ich deshalb in dieser Rezension die Thematik strukturiert darzustellen und dabei wichtige Gedanken der Referenten einzubinden. Es geht um die Begriffe Jazz und Politik, um die Wechselwirkungen auf verschiedenen Ebenen und am Ende um Perspektiven für die Zukunft.

  • Jazz: Musik, Text, Musiker

Wie immer man ‚Jazz‘ definieren mag, die Musik, manchmal der Text, und die Musiker gehören jedenfalls dazu.

Die wichtigste Frage, ob die Musik als Abfolge von Lauten eine politische Aussage beinhalten kann, wird von fast alle Referenten verneint. Henning Vetter bemüht dazu zwar die Unterscheidung von vier Zeichensystemen nach Heßler, kann dies aber bei seiner Darstellung von The Dorf selbst nicht weiterverfolgen. W. Knauer sagt, dass Jazz nicht demokratisch sein kann (s. Zitat oben) und spricht von Bedeutungen, die aber nicht zur Musik selbst gehören. M. Rüsenberg formuliert als „Gemeinplatz der Musikphilosophie“: „Musik ist nicht propositional“ (S.173). Er attestiert einigen Referenten einen ‚Kategorienfehler‘, weil sie einem ästhetischen Phänomen eine nicht ästhetische Eigenschaft zuordnen (S.172).

Kaum thematisiert wird dabei die Frage, in wieweit bzw. wie Jazz besondere Stimmungen erzeugt, die im politischen Kontext wichtig sein könnten. Lediglich W. Knauer gibt zu bedenken, ob die Deutung einer Musik nicht auch einen Bezug zur Musik selbst haben kann. Daran könnte man weiter arbeiten! Für die ‚Freie Improvisation‘, gibt es, so Korhan Erel, für das Publikum die Freiheit zu fühlen was es will, „... oder auch gar nichts“. (S.201)

Beim Text sieht es schon ganz anders aus. Wer kennt nicht Strange Fruit (Billie Holiday), Vietnam Blues (J.B.Lenoir), Prayer für Passive Resistance (Ch. Mingus) mit eindeutigen politischen Aussagen? Doch ganz so einfach ist es nicht. Die Metaphorik von Strange Fruit z. B. erschließt sich nur, wenn man die historischen Zusammenhänge kennt. Viele Standards haben völlig unpolitische Texte. Dieser Aspekt spielte beim Jazzforum nur eine marginale Rolle (Vetter S.31), vielleicht auch weil die Rockmusik hier viel engagierter war.

Die Musiker selber sind nicht unmittelbar Teil der Musik, könnten auch als Kontext verstanden werden. Doch ihre Persönlichkeit ist oft mit bestimmen Stücken verbunden. Wie der einzelne Musiker singt und seine Performance spielen eine große Rolle. Als Solist steht der Musiker besonders im Rampenlicht, er wird oft mit besonderen Stilen identifiziert. Die Band als Gruppe von Musikern entwickelt wiederum eine eigene Dynamik. Ihre Performance kann Inhalte transportieren, auch ohne Schrift und Worte wie am Beispiel von Futur III (B. Weidekamp und M. Haves) gezeigt wird. Auch die Selbstorganisation der Band als politisches Vorbild wird am Beispiel von The Dorf beschrieben (Vetter).

  • Politik: Individuum/Konzertpublikum und Gesellschaft/Staat

Wie so oft wird bei grundlegenden Diskussionen aneinander vorbei geredet, weil Begriffe nicht klar definiert sind. Unter ‚Politik‘ wurde auf dem Jazzforum nicht immer dasselbe verstanden. M. Rüsenberg kritisiert die undifferenzierte Verwendung dieses Begriffs ‚politisch‘ (S.168). Deshalb unterscheide ich im Folgenden im Rahmen eines sehr weit gefassten Politikbegriffs die Ebenen Individuum/Konzertpublikum und Gesellschaft/Staat.

  • Jazz Politik: Kontext

Wie wirkt nun Jazz auf ‚Politik‘ ein? „Jeder Ton“, sagt A. Niescier, wird „automatisch .. kontextualisiert“ (S.195). N. Polaschegg führt zu diesem außermusikalischen Kontext eine Liste von 11 Bezugspunkten an, u. a. Location, Programmheft, Publikum, Vermarktung (S.43).

Den Kontext auf der Ebene des Individuums bildet die auditive Wahrnehmung des Zuhörers, die bekanntlich von vielen Faktoren abhängig ist. Über sie werden Tonfolgen/Klänge/Rhythmen physikalisch wahrgenommen, fast gleichzeitig aber auch interpretiert, und das, wie man weiß, sehr individuell. Dieses auditive Input wird in ein Vorstellungssystem integriert und erhält damit Bedeutung. Dabei können über Projektionen individuelle Vorstellungen auf die Musik übertragen werden (S. Braese).

Das Konzertpublikum bildet selbst einen Kontext als Gruppe, aber auch im Zusammenhang mit der Location und der Situation, in der das Konzert stattfindet. All dies beeinflusst die Wahrnehmung und die Beurteilung der Musik. Auch die soziale Struktur des Publikums spielt eine Rolle. So wird das klassische deutsche Jazzpublikum bei S. Braese in einem Zitat charakterisiert als „relativ privilegierte Abkömmlinge und Nutznießer von Wirtschaftswunder und Marshall-Plan“ (S.23)

Der Jazz- Einfluss auf Gesellschaft und Politik wird schon lange diskutiert. Kann Jazz als gesellschaftliches Vorbild dienen? So wurde der Jazz 1987 in den USA zum Nationalen Kulturschatz erklärt, weil er das Potential habe unterschiedliche gesellschaftliche Gruppe miteinander zu verbinden. Zu Unrecht, meint M. Pfleiderer; ähnlich auch M. Rüsenberg, Jazz sei hier politisch instrumentalisiert worden. Die schon von E. Hobsbawm bemühte Widerständigkeit des Jazz sei, so S. Braese, nur ein „kanonisches Paradigma“ (S.16), das die Entstehungsgeschichte verabsolutiere, in Deutschland sei der Jazz ganz anders entstanden. Auch ‚Entrainment‘ und ‚Group Flow‘ seien kein Modell für demokratisches Handeln, da Kontexte und Logiken zu unterschiedlich seien (Pfleiderer S. 113).

Ähnliches gilt für die Improvisation: „Sind frei Improvisierende die besseren Demokraten?“ fragt N. Polaschegg (S.39ff) und sie ist nicht die einzige, die diese oft diskutierte Frage nach der gesellschaftlichen Vorbildfunktion des Jazz mit einem klaren ‚Nein‘ beantwortet. Die Jazzband tauge nicht generell als Modell für die Demokratie, autoritäre Bandleader wie Mingus hätten das bewiesen. Auch die oft angeführte Berufswahl der oft materiell schlecht abgesicherten Jazzer sei kein politisches Statement. Krankenschwestern und Erzieher seien auch schlecht bezahlt ohne dass deren Berufswahl ein Statement wäre (Rüsenberg S.170).

  • Politik ►Jazz

Doch die musikalische Rezeption ist keine Einbahnstraße. Schon der individuelle Hörer gibt etwas an die Jazzer zurück, z. B. in dem er deren CD (nicht) kauft. Als Teil des Publikums beeinflusst er auch das Verhalten der Musiker auf der Bühne, besonders durch Beifall.

Gesellschaftliche Gruppen üben auf wirtschaftlicher und medialer Ebene massiven Einfluss aus. Der Kulturbetrieb ist ja auch ein Wirtschaftsbereich mit ökonomischer Logik. N. Deventer und drei weitere VeranstalterInnen berichten dazu aus ihren Erfahrungen. Die Politik im engeren Sinne, also Staat, Parteien und Verbände nehmen Jazz als kulturelle Erscheinung wahr und bewerten ihn als politischen Faktor. Sie nehmen großen Einfluss durch (Nicht-)Förderung, durch Bildungsangebote, manchmal auch durch Verbote. Diese von M. Rüsenberg genannte „Rezeptionssteuerung“ kann durchaus politische Ursachen und Wirkungen haben.

Bei solchen Diskussionen wird oft vorausgesetzt, dass Jazz für Demokratie, Diversität und Pluralismus steht. M. Dunkel zeigt an einem Beispiel, wie auch Populisten versuchen, 'afrodiasporischen Musiken' für sich zu instrumentalisieren (S.79ff). Ähnliches wurde schon von US-Regierungen berichtet.

  • Politik ◄► Jazz

Jazz und Politik stehen natürlich in einem Wechselverhältnis, ein Konzert z. B. ist ein sozialer Prozess, in dem Musiker und Publikum kommunizieren und sich gegenseitig beeinflussen. Ähnliches gilt für die anderen Ebenen der ‚Politik‘. M. Pfleiderer begreift Jazz in Anlehnung an H. Rosa im besten Soziologendeutsch als „institutionalisierte Resonanzsphäre .., in der Resonanzsensibilitäten entwickelt und resonante Beziehungen zu einem lebendigen, mir antwortendem Gegenüber gelebt werden können.“ Jazz mache da keine Politik, verkörpere aber eine Art ‚Resonanzoase‘, für die es sich auch politisch einzusetzen lohne (S. 116).

T. Krüger verweist dazu auf die Rezeptionsästhetik von Iser/Jauß, die ‚Ko-Kreativität‘ des Publikums sei maßgeblich an der Konstituierung eines Kunstwerks beteiligt. Dabei geht es ihm nicht nur um Jazz, sondern um die Rolle der Musik im Allgemeinen. Musik und Gesellschaft betrachtet er auf dem Hintergrund der Kulturalisierung aller Lebensbereiche durch Hyperindividualismus und Hybridisierung. Dies biete dem Jazz zwar die Chance mehr politisches Gewicht zu bekommen, beinhalte aber auch die Gefahr vereinnahmt zu werden, da die Tendenz zur Immersion auch den Jazz ergriffen habe. Gerade um dies zu verhindern solle die Gesellschaft aktiv werden. Es geht darum den Spieß umzudrehen, indem eine ‚maximale interessenpolitische Organisationsform‘ entwickelt wird.

  • Nachtrag

Nach all diesen historischen, politischen und kognitions- und sozialwissenschaftlichen Betrachtungen fragt man sich vielleicht: was macht dann noch den Jazz aus? Wenn alles kontextualisiert wird, was bleibt da noch für die Musik selbst?

“Them that’s got shall get, them that’s not shall lose.
So the Bible says, and it still ain’t news.” (Billie Holiday)

Ist das auch als Marsch vorstellbar? Verlangen nur meine Hörgewohnheiten hier den Blues?
Nein, ich glaube der musikwissenschaftliche Aspekt ist bei dem Forum etwas zu kurz gekommen. Man müsste mal versuchen an einem Beispiel musikalische Elemente des Jazz auf ihre Wirkungen hin zu untersuchen um deren Relevanz für die Entstehung von Stimmungen, Haltungen und Bedeutungen zu erforschen.

Insgesamt ein sehr interessantes Buch, das viele Anregungen gibt, mit einigen Fotos vom Jazzforum.

POSITIONEN! Jazz und Politik - Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung Bd. 16
hrsg. von Wolfram Knauer
248 S., pb., 24 € 978-3-95593-016-5
© 2020 Jazzinstitut Darmstadt

Fotos: alle aus dem Buch, mit frdl. Genehmigung des Jazzinstituts Darmstadt
links: Buchtitel, Wolfram Knauer, Michael Rüsenberg
rechts: Jazzinstitut Darmstadt, Brigade Futur III, Arndt Weidler und Angelika Niescier

Inhaltsverzeichnis des Buchs als download

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