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Peter Rüedi

Stolen Moments. 1522 Jazzkolumnen

Bochum, 07.02.2014
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | 

Neben dem verstorbenen „Zeit"-Kritiker Konrad Heidkamp und etwa dem Radio- und Buchautor Karl Lippegaus gehört Peter Rüedi zu den wenigen profilierten Jazzkritikern und –besprechern, die mit viel Hinter-Grund und –Sinn aktuelle Beispiele dieser Minderheiten-Musik kontinuierlich publizistisch verarbeiten, sie kommentieren und in verschiedene kulturelle Zusammenhänge bringen. Der Backstein von für heutige Publikationen – und erst recht gilt dies für Jazz-Literatur – gigantischem Ausmaß von 1.522 Jazzkolumnen auf 1.320 Seiten ist eine wahre Fundgrube für die Jazzgeschichte der letzten 30 Jahre und ihre wichtigsten Vertreter – und zum Teil auch für diejenigen zumindest in unserer Region weniger bekannten etwa aus der durchaus vitalen Schweizer Szene.

In dem Zeitraum von 1983 bis 2013 schrieb der Schweizer Peter Rüedi für die „Weltwoche“ (und zum Teil „Die Zeit“) wöchentlich eine Kolumne über ein neues Jazz-Album. Eher der Textsorte Essay sind diese Kolumnen zuzuordnen, die keiner besonderen Stilrichtung oder keinem bestimmten Genre des Jazz verpflichtet sind. Sie nähern sich dem Jazz vielmehr streng subjektiv in der Auswahl der Alben und in der Wahl der „feuilletonistischen“ Zugangsweise zu diesen. Bemerkenswert ist, dass Rüedi Jazz dabei als Teil eines kulturellen Kosmos mit entsprechenden Bezügen und Abhängigkeiten sieht und kenntnisreich selbige herzustellen vermag. Offensichtlich versteht er sich dabei auch nicht in der Rolle des Kritikers. Soweit ich das sehe, findet sich bei den Kolumnen kein einziger Verriss. Der Jazz-Liebhaber Rüedi zieht einen assoziativ-improvisierenden Gestus vor, mit dem er sich eher intuitiv und bewusst unsystematisch-fragmentarisch der improvisierten Musik nähert und entsprechende Annäherungen des Publikums befördern möchte. Immer wieder verblüffend sind die Querverbindungen zur Philosophie, zur Literatur und zu anderen ästhetischen Formen in der Kunst, die das Verständnis für die jeweilige Spielart des Jazz wecken sollen. Der Musikpublizist, anerkannte Dürrenmatt-Biograph, Feuilleton-Chef, Dramaturg (Berlin, Zürich) und Wein-Kolumnist (!) profitiert erkennbar von seinen unterschiedlichen Interessen und Präferenzen. In einem Interview unterstreicht er sein Selbstverständnis eines „Auslobers“ von Jazz als jemand, der lieber eine Minoritäten-Kultur – zumal in ihren eher subversiven Ausprägungen - unterstützt als sich persönlich durch einen Verbalumschlag zu profilieren versucht. Bemerkenswert trotz aller Assoziationsfreude ist Rüedis prägnanter Stil, der ein Abdriften in ein bildungsbürgerliches Zur-Schau-Stellen seiner Schriftimprovisation vermeidet und im Gegenteil sich immer gerade auch an Nicht-Kenner, aber potenzielle Jazz-Liebhaber wendet. Die genannten Bezüge schaffen so einen spannenden Resonanzraum für die eigentliche Aporie, Musik und ihre Wirkung sprachlich erklären und nachvollziehbar machen zu wollen.

Die Sammlung des Jazz-Kolumnisten - nicht nur im Wortsinn ein Opus magnum - beinhaltet somit „1522 Liebeserklärungen“ (Rüedi) an den Jazz und bindet den notwendigerweise selektiv vorgehenden Rezipienten in diese Liebesbeziehung ein. Beim Querlesen stellt man auch fest, dass die Kolumnen nicht frei von Wiederholungen und auch Marotten sind – man lese nur verschiedene Texte zu ein und demselben Musiker. Dies ist der rückblickend-historischen Perspektive beim Lesen geschuldet: Die Mini-Essays sind zu verschiedenen Zeiten geschrieben und kolportieren in etwaigen Wiederholungen ja nichts Falsches oder Abgegriffenes, sie verweisen auf das, was der Autor im Zusammenhang zu einem Musiker oder einer Gruppe offensichtlich für wichtig hielt.
Dank des umfangreichen Registers wird man zum Stöbern animiert und verliert sich gerne in die Beschreibungen und auch jazzhistorisch äußerst interessanten Jazz-Spuren. Das einzigartige Nachschlagewerk verführt geradezu zu einer Spuren-Suche, zu dem Nach-Hören von längst abgelegten Alben mit den verschütteten Erinnerungen an sie. Von wegen „Stolen Moments“: Der Wälzer beschert einem viele ausgesprochen geschenkte Momente, er ist ein Geschenk, das großes Lesevergnügen bereitet und das Vergnügen befördert, sich mit Jazz hörend-genießend zu beschäftigen. Er ist in der Fülle, in historischer Perspektive und in der journalistischen Qualität ein wahrer Glücksfall, ja ein Referenz-Werk für die Jazz-Publizistik.

Stolen Moments
1522 Jazzkolumnen von Peter Rüedi
Echtzeit Verlag
1320 Seiten
63 Euro

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