Peter Herborn
Merkmale der Perzeption und Konstruktion von Melodien
TEXT: Stefan Pieper |
Wodurch wird ein Song unsterblich? Wodurch bekommen Jazzstandards ihre zeitlose Präsenz, dass auch Jahrzehnten nach ihrem Entstehen immer neues daraus hervorgeht? Welche psychologischen Mechanismen laufen in unserem Wahrnehumgsapparat ab?
Eine musikalische Idee, die sich durchsetzt hat viel mit Intution und Einfühlungsgabe zu tun – noch mehr mit klar definierten Gesetzmäßigkeiten, die immer da sind – auch wenn es vielen aktiven Schöpfern nicht bewusst ist, wenn der Schaffensprozess gerade Früchte trägt. Und genau an diesen Gesetzmäßigkeiten forscht der Musikpädagoge, Komponist, Bandleader, Posaunist und Musikforscher Peter Herborn nun schon seit dem Jahr 2013. Das eindrucksvolle Resultat liegt seit letztem Herbst in gedruckter Form vor: „Merkmale der Perzeption und Konstruktion von Melodien“ lautet der sperrige Titel für ein großes Buch, dessen Inhalt aber gar nicht so sperrig daherkommt und sich auch dem spontan lesenden Musikliebhaber denkbar eingängig erschließt.
Am Anfang war der Wunsch, die vielen Erkenntnisse, die Herborn als Lehrender und Leiter des Jazzbereichs an der Folkwang-Universtität gewonnen hatte, in einem kurzen Handbuch aufzuschreiben – aber das Unterfangen wuchs schnell über dieses Format hinaus.
Es geht um Psychologie
Wenn es um die Erforschung von Gesetzmäßigkeiten für eine Melodie geht, kommen Aspekte von Proportionen und Logik ins Spiel. Ebenso Fragen von Symmetrie, und vieles mehr, was die Wechselbeziehung zwischen Sender und Empfänger bei Musik ausmacht. Also kam die Musik-Psychologie ins Spiel, die im Bereich der traditionellen Musikologie immer noch ein zartes Pflänzchen darstellt.
Mal eben kurz der Versuch eines rudimentären Fazits der Thesen von Peter Herborn: Bei einer Melodie, die funktioniert, sind Spannungsaufbau und Auflösung im Spiel - oder anders herum: Es geht um Erwartung und kalkulierte Erwartungsverletzung, wodurch eine Musikstück in der Regel erst „Kunst“ wird.
Herborns Studie ist fast 700 Seiten stark geworden, was erstmal an eine erdrückende wissenschaftliche Textwüste erinnert. Aber das Erscheinungsbild und die Gliederung seiner Studie widerlegt solche Befürchtungen auf erfrischende Weise: Die Struktur ist denkbar aufgeräumt, so dass der klare „Handbuchcharakter“ gewahrt bleibt. Für die meisten Untersuchungen reichten Herborn zwei Musikbeispiele, nämlich das große „My Funny Valentine“ sowie der Melodieverlauf eines „“Keith-Jarret-Solos“. Für alle, die tiefer eintauchen wollen, werden explizierte Internetlinks zu Tonbeispielen angeführt, die auch per QR-Codes zugänglich werden. Herborns Schreibstil ist zudem denkbar weit vom Stil eines wissenschaftlichen Nerds im Elfenbeinturm entfernt, stattdessen lebt eine Diktion weiter, wie wir sie von Herborn als aktiv Lehrendem und anregenden Gesprächspartner kennen.
Präzision und Anschaulichkeit
Jeder kann dieses Buch so nutzen, wie er möchte oder wie er es braucht. Wer tief eintaucht, hat wissenschaftlich hochpräzises Grundlagen-Material. Kein Zufall, dass dieses Buch mittlerweile auf den Bestelllisten vieler Hochschulen und Konservatorien steht. Für den neugierigen Musikliebhaber, der vielleicht auch gerne mal diagonal durch die Kapitel surft, bildet diese Studie einen ebenso großen Mehrwert - und dies eben auch für einen aufgeklärten Jazz-Diskurs. Was den Jazz von klassisch komponierter Musik unterscheidet? „Eine klassische Komposition ist wie ein wissenschaflticher Vortrag. Ein Jazzstück wie eine lockere Konversation über dieses Thema.“ An einer Einsicht besteht kein Zweifel: Beides macht gleichwertig die Kunstmusik seit dem 20. Jahrhundert aus - auch wenn der gute alte Adorno dies nicht wahrhaben wollte....
Buch
Peter Herborn: Merkmale der Perzeption und Konstruktion von Melodien
emano books 2021, 700 Seiten, € 59,90
ISBN 978-3-03836-045-2