Nils Wülker
Continuum
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Thomas von Aagh
Nils Wülkers 12. CD ‚Continuum‘ wird am 29. April erscheinen. Nils hat sich mal wieder neu erfunden und nun ein Album mit dem Münchner Rundfunkorchester vorgelegt. Drei Stücke wurden bisher vorab als ‚Singles‘ veröffentlicht.
Nils Wülker & Münchner Rundfunkorchester — "Continuum" (conducted by Patrick Hahn)
- Continuum
„Ich nenne dieses Album „Continuum“, weil es für mich ein Terrain absteckt und auch die Entstehungsgeschichte markiert“, sagt Nils Wülker.
Man könnte diesen Satz auch auf Nils selbst beziehen, dessen Kontinuität in seiner beständigen Weiterentwicklung besteht. Vom vielzitierten ‚großen Melodiker‘ hat er sich anhand der Einflüsse der Elektronik mehr der Rhythmik zugewandt. Auf Continuum bringt er nun beides in neuer Form zusammen.
Das erste Stück Continuum klingt abgeklärt. Man hört, da ist jemand seinen Weg gegangen und angekommen. Nach einem Intro des Orchesters setzt das Piano ein, die Trompete stellt das Thema vor, gegen Ende hat das Orchester nach einer kleinen Pause einen eigenen Part mit Vibraphon, Oboe, Flöten und Harfe. Die bluesähnlich gespielte Trompete führt zum Ende. All das kann man auf dem Video (s.o.) gut beobachten.
- Jazz und Klassik - Band und Orchester
Einige US-amerikanische Jazzmusiker hatten eine Art Sehnsuchtsbeziehung zu Klassik und Symphonieorchestern. George Gershwin z. B. versuchte mit der Synthese von Jazz und Klassik, wie z. B. bei Rhapsody in Blue, die vermisste gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen. Billie Holiday hatte sich lange gewünscht ‚mit Geigen‘ zu singen, was ihr mit ihrem vorletzten Album Lady in Satin dann auch vergönnt war. Selbst Deep Purple profilierten sich mit einem Konzert mit dem London Symphony Orchestra 1969 in der Royal Albert Hall.
Heutzutage braucht Jazz um Anerkennung nicht zu kämpfen, auch wenn die öffentliche Förderung noch zu wünschen übrig lässt. Die Verbindung von Jazz und Klassik findet sich wieder häufiger, z. B. bei Joscho Stephan, der als Gast bei Daniel Hope und dem Züricher Kammerorchester in der Elbphilharmonie auftrat.
Nils Wülker legt nun mit Continuum ein Album vor, in dem Orchester und Band in enger Abstimmung miteinander agieren. Schon vorher hatte er mit der NDR Radiophilharmonie und dem Swedish Radio Symphony Orchestra unter Hans Ek Stücke aus dem Album GO gespielt. Das hat ihn motiviert ein ganz neues Album für Band und Orchester zu komponieren. Hans Ek hat die meisten Stücke arrangiert, der schottische Komponist und Trompeter Craig Armstrong war an zwei Kompositionen beteiligt.
Nils Wülker (trumpet, flugelhorn), Jan Miserre (piano, fender rhodes), Matthias Meusel (drums) und Sven Faller (bass) bilden die Band. Patrick Hahn leitet das Münchner Rundfunkorchester des Bayrischen Rundfunks als Gastdirigent.
Aber Symphonieorchester und Jazzcombo - sind das nicht gegensätzliche Welten? Welche Rolle spielt dabei das Orchester? Ist es nur eine grandiose Kulisse, die die Bedeutung des Solisten hervorhebt? Soll es nur begleiten oder hat es auch eine eigenständige Rolle, die auf einem musikalischen Konzept basiert?
Big Bands gehören zur Jazztradition, sie sind auch Orchester. Auch dort ist vieles durchkomponiert, doch alle Musiker sind dem Swing verpflichtet und können Soli spielen. Wie sieht das bei einem klassischen Orchester aus?
Weil das Orchester nicht nur die Band begleiten soll, hat Nils es von Anfang an bei seinen Kompositionen mitgedacht. Aber können beide Seiten sich auf dieses genreübergreifende Projekt einlassen? Erfahrungen von Joscho Stephan besagen, dass dies dem Orchester schwerer fällt als den Jazzmusikern.
Nils Wülker & Münchner Rundfunkorchester — "Nika's Dream" (conducted by Patrick Hahn)
- Trompete und Orchester - Parallelen zu Charles Ives
Alle Stücke sind sehr melodisch und harmonisch und erinnern an den frühen Nils Wülker. Vier davon stammen aus dem vorhergehenden Album GO. Sie wurden neu arrangiert und klingen mit leicht veränderten Titeln (Unhidden Intentions, Distorting Time And Space, Hybrid Balance, The Dark Frame) doch ganz anders als auf GO.
Nils meint, Hans Ek habe „einen fantastischen Weg gefunden ... die elektronisch geprägte Rhythmik, den Groove meiner Musik und deren atmosphärische Dichte, auf das Orchester zu übertragen.“ Ich bin da skeptisch, bei Distorting Time (And Space) wird zwar versucht den elektronischen Mittelteil mit dem Orchester nachzubilden, doch da muss man schon genau hinhören.
Munich Afternoon komponierte Nils gemeinsam mit Craig Armstrong. Es klingt feierlich-entspannt. Nils spielt langsam und sehr klar mit vielen Wiederholungen und kleinen Variationen des Themas. Piano und Bass übernehmen, dann im Wechsel Orchester und Trompete, zeitweise auch parallel. Für das Orchester bleibt hier nicht viel zu tun, aber es klingt sehr harmonisch.
Das gilt in besonderem Maße für Nika's Dream. Ein Freund wies mich auf eine strukturelle Ähnlichkeit mit The Unanswered Question, dem berühmten 6-Minuten-Stück von Charles Ives, hin. Bei beiden Stücken liefert das Orchester einen Klangteppich, über dem die Bläser (bei Ives Trompete und Holzbläser) solieren.
Manchmal spielt das Orchester ‚solo‘ ohne Band, manchmal kommt es zu Frage-Antwort ähnlichen Passagen zwischen den beiden Gruppen, z. B. in Retrace Your Steps. Soli aus dem Orchester sind allerdings nicht zu hören, wahrscheinlich widerspräche dies auch dem traditionellen Selbstverständnis bzw. der Ausbildung klassisch ausgebildeter Musiker. Und dass ein klassisches Orchester normalerweie nicht swingen kann, ist bekannt. Die Herausforderung besteht darin, beides zusammenzubringen.
- ----- unterm Strich ------
Die Rollen von Orchester und Band sind nicht gleich verteilt, können dies aber vielleicht auch gar nicht sein. Das Orchester spielt oft Fläche, ist aber manchmal auch aktiver eingebunden. Ein Symphonieorchester kann natürlich nicht wie eine Big Band agieren. Das German Jazz Philharmonic hat schon mal Ähnliches versucht. Vielleicht entsteht hier ein neues Genre. Es bleibt abzuwarten in welchem Maße das Publikum - von beiden Seiten - dafür ansprechbar ist.
Aufführungen mit dem Münchner Rundfunkorchester sind aus organisatorischen Gründen begrenzt. Nils kann aber auch mit anderen Orchestern spielen, z. B. am 18.06.22 im Monheimer Marienburgpark, mit dem Sinfonieorchester Wuppertal.
Nils Wülker Continuum
Label: Warner
Bestellnummer CD: 10844847
Erscheinungstermin: 29.4.22