Neues aus der CD-Welt
Christoph Gieses Schnelldurchlauf Vol. 73
TEXT: Christoph Giese |
MIKIS THEODORAKIS: „Private Recordings“ (Intuition)
MIKIS THEODORAKIS: „Lost Songs“ (Intuition)
100 Jahre alt wäre er in diesem Juli geworden, der im September 2021 verstorbene griechische Komponist, Schriftsteller und Politiker Mikis Theodorakis, der in seiner Heimat als Volksheld verehrt wird. Filmmusiken zu legendären Streifen wie „Alexis Sorbas“ mit Anthony Quinn oder dem US-Polizeifilm „Serpico“ mit Al Pacino hat er geschrieben. Jetzt erscheinen gleich zwei Veröffentlichungen des Griechen. Auf dem Doppelalbum „Private Recordings“ hört man ihn selbst singen und Klavier spielen, in Aufnahmen der 1970er und 1980er Jahre, die er bei sich zu Hause aufnahm. Es sind Rohfassungen, die als Basis für Konzert-Premieren und LP-/CD-Produktionen dienten. Auf „Lost Songs“ hat der Berliner Pianist Henning Schmiedt solo am Klavier und mit gelegentlicher Unterstützung weiterer Musiker 14 bislang unveröffentlichte Kompositionen von Mikis Theodorakis eingespielt. Die meisten Lieder stammen aus den 1940er Jahren. Und man hört: Schon damals schrieb der Grieche berührende Melodien, die Schmiedt hier zauberhaft interpretiert.
SARAH WILSON: „Incandescence“ (Brass Tonic Records)
Dass Kunst wiederum Kunst inspiriert, ist ja nicht neu. Bei Sarah Wilson waren es Malereien des Wiener Künstlers Thomas Reinhold, die sie vor zwei jahren als Artist in Residence im niederösterreichischen Krems kennenlernte. Reinhold startete Ende der 1970er Jahre die „Neue Wilde“ mit, eine Gruppe von bildenden Künstlern in Deutschland und Österreich, die mit unbekümmerter und lebensbejahender Malerei von sich reden machte. Und genau so klingt auch das Brass Topic Sextet der in Kalifornien beheimateten Trompeterin: Positiv, unbekümmert, frisch, groovy, von New Orleans-Marchingbands inspiriert. Klasse.
TINGVALL TRIO: „Pax“ (Skip Records)
Eingäng ist die von Pianist Martin Tingvall geschriebene Musik, voller Klarheit und schöner Melodien. Das Tingvall Trio verzaubert nun schon seit zwei Jahrzehnten mit seiner Klangwelt, die aber totz aller singbaren Qualitäten und vermeintlichen Leichtigkeit nachdenklich und strukturell durchaus komplex gestrickt ist. „Pax“ heißt die neue Platte der drei Wahl-Hamburger und soll zum Nachdenken anregen, zur Ruhe kommen lassen und ein Zeichen für Frieden in einer immer verrückteren Welt setzen. Kann Musik das alles überhaupt? Die zwölf kammerjazzigen Songs mit Popappeal auf diesem Album jedenfalls tun der Seele ziemlich gut.
MULO FRANCEL & RAMI ATTALLAH GROUP: „Global Players“ (Fine Music)
Weltumspannende und weltoffene Musik zu spielebn ist schon immer das Credo vom Saxofonisten Mulo Francel gewesen. Nicht zuletzt nachzuhören bei seiner Band Quadro Nuevo, die er bereits Ende der 1990er mit seinem Jugendfreund Didi Lowka gründete. Der Bassist ist bei „Global Players“ auch mit von der Partie. Im Fokus aber steht hier die Verbindung von Francel zum ägyptischen Pianisten Rami Attallah. Beide haben sie auf dem in Kairo und München eingespielten Album fast alle Kompositionen beigesteuert. Zu einer elegant schwingenden, leichtfüßigen, easy zu hörenden Jazzmusik mischen sie gelegentlich Tango, Rumba oder mediterrane Klänge. Gute Unterhaltunsgmusik im besten Sinne.
MIGUEL ZENÓN QUARTET: „Vanguardia Subterránea“ (Miel Music)
Zum 20. Bandjubiläum erscheint nun das allererste Livelabum seines famosen Quartetts. Und auf dem im Herbst letzten Jahres an zwei Abenden in New York´s berühmzen Jazzclub Village Vanguard eingespielte „Vanguardia Subterránea“ zeigen der puertorikanische Saxofonist und Komponist Miguel Zenón, der ebenfalls aus Puerto Rico stammende Drummer Henry Cole, der venezolanische Pianist Luis Perdomo und der österreichische Bassist Hans Glawischnig wie prägnant sie all die Jahre die Schnittstellen zwischen Latintradition, Bop-Melodien und modernem Jazz neu definiert haben. Messerscharfen Altsax-Linien, viel Energie, rhythmisch packende Motive und eine stetige Suche nach frischer Ausdrucksweise haben diese vier Musker zu einem der aufregendsten Jazzquartette werden lassen, was diese Liveplatte bestens dokumentiert.
ROGER GLENN: „My Latin Heart“ (Patois Records)
Mit wem hat Roger Glenn nicht alles schon zusammengespielt! Was auch daran liegt dass er als Multiinstrumentalist so vielseitig ist. So spielte er Flöte mit dem Vibrafonisten Cal Tjader und Vibrafon mit dem Flötisten Herbie Mann. Er hat mit Dizzy Gillespie, Donbald Byrd oder Mongo Santamaria gearbeitet. „My Latin Heart“ aber ist die erste eigene Platte in den letzten 50 Jahren des lange schon in Kalifornien lebenden, gebürtigen New Yorkers. Und es zeigt den Vibrafonisten und Marimbaspieler, Flötisten und Saxofonisten nicht nur als elegant aufspielenden Latin Jazzer, sondern auch als Komponisten, der die ganze Palette von Latin Jazz farbenfroh und vielseitig zum Leuchten bringt mit einer erstklassigen Band, zu der etwa Santana-Keyboarder David K. Mathews oder Gitarrist Ray Obiedo gehören.
BRAD MEHLDAU: „Ride Into The Sun“ (Nonesuch Records)
Popmusik neu und auf seine ganz eigene Weise zu interpretieren, das hat Brad Mehldau schon länger für sich entdeckt. Nachzuhören auf Alben von ihm, wo der US-Pianist Musik von den Beatles, Nick Drake oder Radiohead neu vertont. „Ride Into The Sun“ ist dem früh verstorbenen US-Singer/Songwriter und Gitarristen Elliott Smith gewidmet, von dem er eine Reihe von Songs hier spielt neben ein paar von Smith inspirierten, eigenen Kompositionen oder einem Stück von Nick Drake. Mal solo, mal in Begleitung seiner exquisiten Band mit Chris Thile, Daniel Rossen, John Davis oder Matt Chamberlain und immer wieder ergänzt von einem Kammerorchester taucht Mehldau tief in die bittersüße Melancholie von Elliott Smith ein. Berührend.
ANDREAS FEITH & MARKUS HARM: „Abstract Truth“ (Double Moon Records)
Ganz stark begint dieses Duoalbum der beiden aus Süddeutschland stammenden Musiker Andreas Feith und Markus Harm. Das Titelstück „Abstract Truth“ ist als Album-Opener ein fast neunminütiges intensives, bluesig gefärbtes Gespräch des Alt- und Sopransaxofonisten und des Pianisten. Dunkel tönend und doch mit erhellenden farben versehen, unter die Haut gehend. Und man spürt zudem gleich das Talent für Melodien der beiden Enddreißiger und wie sie im Rahmen von ihrem melodiösem Spiel feine Improvisationen einzuflechten verstehen. Sieben Eigenkompositionen stehen drei Jazzstandards gegenüber. Zauberhaft etwa der Ausklang dieser wundervollen CD mit Jerome Kerns Klassiker „Smoke Gets In Your Eyes“. Aber auch in selbst geschriebenen Balladen verzaubert dieses kongeniale Duo mit seiner Musik für Herz und Seele.
CHRISTIAN MUTHSPIEL & ORJAZZTRA VIENNA & die Stimme von Ernst Jandl:
„vom Jandln zum Ernst“ (col legno)
„Das Sprechgedicht wird erst durch lautes Lesen wirksam“ sagte einmal der vor einem Vierteljahrhundert verstorbene österreichische Dichter und Schriftsteller Ernst Jandl. Ob Lautgedichte, visuelle Poesie oder „Stanzen“ genannte Vierzeiler, erst Jandls Sprechkunst ließ sie adäquat erklingen. Um diese eindrucksvolle, unverwechselbare Stimme sowie das poetische Werk Jandls dem Vergessenwerden zu entreißen, komponierte Christian Muthspiel seinem mit grandiosen Solisten besetzten Jazzorchester ORJAZZTRA VIENNA „vom Jandln zum Ernst“ auf den Leib und erzeugt die Illusion eines gemeinsamen Live-Auftritts mit Ernst Jandl, dessen aus verschiedenen Aufnahmen extrahierte Stimme als Hauptsolist agiert. Muthspiel ist in den 1980er-Jahren gemeinsam mit Jandl aufgetreten. Eine jahrzehntelange Beschäftigung mit Jandls Werk, der selbst ein glühender Jazzfan war, mündet hier anlässlich dessen hundertsten Geburtstags in ein Oratorium für Dichterstimme und Jazzorchester. Sehr speziell, das Ganze. Muss man mögen. Aber dann ist es großartig.