Mulo Francel
Crossing Life Lines
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Rene-van-der-Voorden
Dieses Album ist etwas ganz Besonderes, in vielerlei Hinsicht. Schon das Booklet überrascht, das über die Intentionen des Albums informiert. Ich zitiere daraus Mulo Francel selbst:
„In jener Nacht fand ich keinen Schlaf. Seit Tagen war ich mit meiner Band Quadro Nuevo in Tschechien und Polen auf Tour. ... An unserem letzten Abend spielten wir in Gliwice in Oberschlesien. Jakub .. lud uns anschließend in ein Restaurant auf dem Lande ein ... Bis spät unterhielten wir uns und versuchten, uns gegenseitig Witze zu übersetzen. .....
Noch immer lachend fiel ich ins Hotelbett... Die Emotionen dieser Reise ließen mir keine Ruhe. Und eine entscheidende Frage: Wie gehe ich mit dem Leid um, das die Generation unserer Großväter verursacht hat? Spricht man es an? Entschuldigt man sich? ....
Das Ende des Zweiten Weltkrieges ist über 75 Jahre her. ... In jener Nacht wurde die Idee zu diesem Album geboren.“
Mulo Francel ist als Saxofonist von Quadro Nuevo bekannt geworden. Er suchte zu seinem neuen Projekt Musiker, die einen „Sinn für das Überwinden von Grenzen und das Bauen von versöhnenden Brücken zwischen den Völkern haben“. Er fand Musiker mit Wurzeln in der „slawischen“, „germanischen“, deutsch-böhmischen, tschechisch-böhmischen, sudetendeutschen, ungarisch-österreichischen, jenischen, jüdischen und christlichen Kultur. Manche Stücke beziehen sich auf die Vorfahren einiger Musiker.
- transgenerational – genreübergreifend - völkerverbindend
Crossing Life Lines heißt das Album darum sehr treffend. Doch es treffen sich hier nicht nur die Musiker mit ihren familialen Backgrounds. Mit ‚versöhnenden Brücken‘ werden auch unterschiedliche musikalische Welten verbunden. Historisch - transgenerational - umfassen die Stücke der CD einen Zeitraum von ca. 100 Jahren. Die Auswahl ist genreübergreifend, sie reicht von klassischer Musik über Klezmer und orientalisch geprägte Musik bis hin zu Jazz und Blues. Schwerpunkt ist aber Osteuropa. Auch die Instrumente sind sehr vielfältig: Neben den klassischen Jazz-Instrumenten (p, git, b, ss, ts, dr, perc) hört man Klarinetten, Steel Drum, Vibraphone, Cello, Timbales, Array Mbira.
Als ‚Crossing Life Line‘ haben auch die Musiktitel eine besondere Bedeutung: Look for the silver lining (1916) von Kern/DeSylva steht für die Hoffnung in schweren Zeiten; Lover man – Oh, where can you be? (Billy Holiday 1945) für Frauen, die nach dem Krieg auf ihre Männer warteten. Es geht auch um persönliche Erfahrungen an der deutsch-tschechischen Grenze im Pfälzer Wald (Naab), um Erinnerungen an (Ur)Großmütter/-väter (Hello Ada, Frieda, The Rabbi from Namysłów) und um erlebte Momente in verschiedenen Jahreszeiten (Wiosna, Ein Sommertag, September Remember). In Sám s děvčetem v dešti lebt die böhmische Tanzmusik der 30er Jahre wieder auf. Musiker und Instrumente spielen zu den Stücken jeweils in unterschiedlichen Kombinationen
- Valse du Bohémien - Schaschlik - Blues in X Moll - Fredinand´s Prelude
Die 14 Stücke sind zum großen Teil von Mitgliedern der Band komponiert, manchmal mit Bezügen zu Kompositionen aus Klassik und Jazz. Exemplarisch möchte ich hier vier davon beschreiben. So beginnt die CD mit einer Klassik-Adaption Valse du Bohémien, eine groovige Neufassung von Smetanas Moldau. Nachdem Mulo Francel am Sax die Melodie präsentiert und variiert hat, steigen Philipp Schiepek an der Gitarre und David Gazarov am Piano nacheinander mit sehr groovigen Soli ein bis dass das Sax wieder zur Melodie zurückführt. Was Smetana wohl dazu gesagt hätte?
David Gazarov hat Schaschlik geschrieben. Er stammt aus Baku und hat Motive aus dem Kaukasus verwendet. Mulo Francel brilliert hier auf der Klarinette und erinnert an Klezmer; das Piano ist wieder mit einem Solo dabei.
Blues in X Moll ist die längere Geschichte des Trompeters X. Moll und des Klarinettisten A. Frontzek (vgl. Foto mit den beiden Bläsern), die im Osten der K&K-Monarchie lebten und sich mit gelegentlichen Konzerten über Wasser hielten. Am liebsten spielten sie zusammen auf jüdischen Festen. Blues in X Moll scheint mir das zentrale Stück des Albums zu sein. Neben Mulo und David wie oben sind Sven Faller (Bass) und Robert Kainar (drums) dabei. Mit einem Trommelwirbel beginnt es, dann lange Sax-Linien, bluesige Piano-Soli, kurze Akzente der drums, dann wieder das Sax. In diesem Muster sind viele der Stücke gestrickt.
Am Ende steht wieder eine Klassik-Adaption: Fredinand´s Prelude ist ein Wortspiel mit den Namen Frederic (Chopin) und Ferdinand (‚Jelly Roll‘ Morton). Schon Gerry Mulligan u. a. haben das Prelude gespielt, hier ist aber etwas ganz Neues entstanden. Ein polnischer klassischer Komponist und ein US-amerikanischer Ragtime-Pianist aus New Orleans - wie geht das zusammen? Es geht, Mulo Francel übernimmt Chopins Melodie, Bernd Lhotzky die groovige Begleitung im Stil Mortons, ein interessantes Stück, das sich laut Booklet „auch als Schlussakt eignet“.
Doch der grenzübergreifende Ansatz geht manchmal weiter als man erst denkt. Bei Sám s děvčetem v dešti klingt mal Ain’t Misbehavin‘ an. Bei Ada’s Song musste ich unwillkürlich an Hello Dolly denken, denn so ähnlich beginnt die Melodie, auch wenn sie dann nach Moll abfällt. Chopins Prelude kam mir sehr bekannt vor, Jobim muss bei Insensatez wohl 1963 von Chopin ‚profitiert‘ haben.
Vielleicht zeigen gerade diese Ähnlichkeiten, dass unsere Copyright - Vorstellungen nur ökonomische Bedeutung haben. Kein Komponist fängt bei Null an, alle sind ‚Zwerge auf Schultern von Riesen‘, die von ihren Vorgängern profitieren und – oft unbewusst – Ideen aufnehmen und weiterentwickeln. So gesehen ist das gemeinsame musikalische Erbe unteilbar und völkerverbindend, ganz im Sinne von Mulo Francel
- weitergehende Informationen
Man kann hier nicht dies alles darstellen, viel mehr steht im deutsch/englischen Booklet, das viele Informationen zur Entstehung des Albums und zu den Titeln enthält. Alle Texte und Fotos sind freizugänglich auf der homepage unter:
https://www.mulofrancel.de/de/mulo-francel-cds.php?cd=crossinglifelines
Mulo Francel & Friends - Crossing Life Lines
FM 261-2/GLM/4014063426123/
Vertrieb: EdelLC 11188 CD & LP
Veröffentlichung: 28. August 2020
Diknu Schneeberger (guitar)
Izabella Effenberg (vibraphone, array mbira, steel drums)
Philipp Schiepek (guitar)
David Gazarov (piano)
Bernd Lhotzky (piano)
Robert Kainar (drums)
Stefan Noelle (drums)
D.D. Lowka (bass, percussion)
Sven Faller (bass)
Jiří Bárta (cello)
Mulo Francel (saxes, clarinet)