Melanie Charles
Y’all Don’t (Really) Care About Black Women
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Meredith Traux
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‘Them that’s got shall have
Them that’s not shall lose
So the Bible says
and it still ain’t news.’
Das ist schon ganz schön mutig von Melanie Charles wie sie mit teils piepsiger Stimme God Bless The Child singt. Billie Holiday hatte den Song 1941 selbst komponiert und diese neue Version gefiel mir erstmal überhaupt nicht. Aber Hörgewohnheiten können auch hinderlich sein. Das neue Arrangement mit Harmoniumklang, Violine und ganz neuer Rhythmik hat schon was. Dass der oben zitierte uralte Bibelspruch immer noch aktuell ist, da God’s Blessing immer noch nichts bewirkt hat, führt zum zentralen Thema dieses Albums. Es geht vor allem um die Situation schwarzer Frauen, aber auch um einen Vorwurf: Y’all Don’t (Really) Care About Black Women. ‚You all‘??
- Melanie Charles ...
hat haitianische Wurzeln und ist in New York in einer 10köpfigen Familie in schwierigen Verhältnissen groß geworden. Schon früh lernte sie Flöte, ihr Traum Opernsängerin zu werden wurde nicht erfüllt. In ihrer Jazzgesang-Ausbildung kamen ihr aber vielfältige musikalische Erfahrungen zugute:
“Hearing salsa music at the grocery store or my grandma having prayer meetings in the house, then singing like old Haitian church songs — that being in my ear — or gospel and spirituals from church, ... I was surrounded by so many different sounds and cultures and different generations of music.”
Soul, R&B, Jazz, sie kann das alles und überschreitet dabei auch gerne Genre-Grenzen. Im Jazz jedenfalls ist sie angekommen. Denn Wynton Marsalis hat sie schon eingeladen beim Jazz at Lincoln Center Orchestra zu singen.
- “I feel like I’m walking in the path of my ancestors and the people that paved the way for me”
Bei mehreren Stücken werden Originalstimmen von meist bekannten schwarzen Sängerinnen eingespielt, ‚reimagined‘ nennt sie das. Doch eine ‚Wieder-Vorstellung‘, wie es sich früher angehört haben könnte, ist das nicht, es sind ganz neue Arrangements, in die Samples aus den Originalsongs eingearbeitet wurden. ‚Hybrid‘ könnte man es auch nennen.
Von Dinah Washington hat sie Perdido und What A Difference a Day makes bearbeitet. Detour Ahead von Sarah Vaughan klingt zunächst sehr vertraut, wohl weil ein Sample aus dem Originalstück eingespielt wird. Im zweiten Teil wechselt der Groove, viel Hall , Sprechgesang - das ist wieder ganz was Anderes.
Melanie Charles ist inzwischen auch politisch engagiert und knüpft mit ihrem Album an die Bürgerrechtsbewegung der 60er an. Da kommt All Africa (The Beat) gerade richtig. Dieses Stück wurde 1960 von Abbey Lincoln auf der LP We Insist! Max Roach’s Freedom Now Suite gesungen. Melanie singt es ganz ähnlich im Duett mit Anwar Marshall auf den afrikanischen Trommeln. Die Parallelen zur heutigen Situation in den USA und zur Black Lives Matter Bewegung liegen auf der Hand. Von Abbey Lincoln ist auch The Music Is The Magic zu hören.
Das Pay Black Women Interlude stammt von Melanie persönlich und bildet auf der LP den Abschluss der 1. Seite. Ein Motiv, das immer wieder wiederholt wird, kurze Sax- und Flöten-Soli, Textansagen. Ein Interlude eben, das nicht überzeugt hat.
Zwei klassische Sängerinen spielen eine wichtige Rolle, weil sie nicht so bekannt sind wie die anderen: Betty Carter und Marlena Shaw.
Betty Carter war führend in der Herausbildung des improvisierten Gesangsansatzes, blieb aber weithin unbekannt. Jazz (Ain’t Nothing But Soul) hatte sie 1960 gesungen. Melanie Charles‘ Fassung beginnt mit viel Swing, zwischendurch eine starke Rhythmisierung, dann wieder groovige Passagen mit dem Keyboard. Vielleicht das ‚jazzigste‘ Stück der CD.
Das spannendste Stück des Albums ist wohl Woman of the Ghetto. Melanie erinnert damit an Marlena Shaw, die den Songschon 1969 aufgenommen hatte. Nicht zu verwechseln mit ‚In the Ghetto‘ von Elvis im gleichen Jahr. Shaw sang ähnlich wie Nina Simone, Melanie Charles singt es wieder ganz anders mit einer Begleitung, die teils an afrikanische Trommeln erinnert, teils von elektronischen Effekten begleitet wird. Nun j, auch das Ghetto wird sich inzwischen verändert haben.
Zum Schluss wird Duke Ellingtons Beginning To See The Light in der Interpretation von Ella Fitzgerald ‘reimaginiert’ mit HipHop-Einsprengseln. Licht am Ende des Tunnels? Sehe ich da nicht, nicht jeder Remix ist gelungen, aber – wie immer – Geschmackssache.
- Unterm Strich ...
Melanie Charles hat viele Talente. Ihre Stimme klingt manchmal wie Nina Simone, Amy Winehouse oder sogar wie Eric Burdon. Dieses Projekt, in dem historisch bedeutsame Stücke aufgenommen und neu bearbeitet werden, ist sehr anspruchsvoll, da einerseits genreübergreifend arrangiert wird, andererseits auch politische Intentionen bestehen.
Der politische Anspruch kann gut über den Brückenschlag zu den schwarzen Sängerinnen der 60er Jahre hergestellt werden. Musikalisch ist es schwieriger, es fallen besonders der Einsatz afrikanischer Instrumente und die starke Rhythmisierung auf. Oft beginnen Stücke in der herkömmlichen Fassung mit Samples und werden danach in stark veränderter (man könnte auch sagen ‚entfremdeter‘) Form fortgeführt. Wäre es da nicht konsequenter nur auf eigene Stücke zu setzen? Remix kann auch zu Mischmasch führen.
Y'All Don't (Really) Care About Black Women? You all?
Leidenschaftliches Engagement führt manchmal zu inadäquaten Generalisierungen. So wird zu Detour Ahead (s.o.) berichtet, es seien "her personal experiences with heartbreak and unrequited love". Haben nicht auch weiße Frauen Liebeskummer?
Melanie berichtete in einem Interview, dass ihr erst während der Pandemie die Benachteiligung schwarzer Frauen bewusst geworden ist. Seltsam, ich hatte schon vorher davon gehört. Und warum muss sie sich so aufbrezeln? Aber vielleicht spricht das ja junge Leute an. Denn die möchte Melanie Charles mit ihrer Musik zum Jazz zurückholen.
Doch all dies sind nur Gedanken eines alten weißen Mannes aus Mitteleuropa. Für USamerikanische Ohren mag die Musik ganz anders klingen und ganz anders wahrgenommen werden.
Melanie Charles, Y'All Don't (Really) Care About Black Women
Label: Impulse 2021
Bestellnummer: CD 10690516
Erscheinungstermin: 12.11.2021