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Mart Soo und Florian Walter

The Golden and othter Ratios

Essen, 19.12.2020
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | 

Ein in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliches Album: ungewöhnlich vom Design her in überdimensionierten CD-Maßen und ansprechendem Artwork in Form eines Wendeposters (Gestaltung: Maren Endler) und vor allem von den Klangspektren mit einem ungewöhnlichen Instrument her. Die Rede ist von der gerade erschienen CD The Golden And Other Ratios von Mart Soo (Gitarren und Electronics) und Florian Walter (Hechtyphone).

Wer bei der Nennung des Instrumentes des Essener Bläsers stutzig wird („Nie gehört“), sei ob seiner vermeintlichen Ignoranz beruhigt: Es handelt sich bei dem Hechtyphon um eine Neukonstruktion, um eine Weiterentwicklung der Reed-Trumpet, einem „hybriden“ Instrument, das Bauweise und Spieltechniken von Holz- und Blechblasinstrumenten kombiniert. Florian Walter und Wolfram Lakaszus haben hier weiter getüftelt und ein Instrument entwickelt, das mit drei bzw. vier Trichtern ausgestattet ist, die über ein eigens entwickeltes Mundstück „bedient“ werden. Außerdem enthält die Erfindung zusätzliche Ventile und elektronische Schnittstellen. Und ungewöhnlich sind die acht Titel der CD, die Florian Walter mit diesem Instrument in Begleitung von unterschiedlichen Gitarren- und Elektroniksounds von Mart Soo, ja: zaubert. Die beiden Musiker haben sich 2015 in Wroclaw kennengelernt und seitdem häufiger zusammen musiziert, die 2019 in Tallinn aufgenommene CD dokumentiert nun eindrucksvoll ihre Zusammenarbeit.

Sirenenton und Industrieklänge

Der Auftakt mit Entering Rabbit Holes hebt mit einem durchgängigen Sirenenton an, zu dem sich Industrieklänge und solche der E-Gitarre mischen, ein fein dosiert modulierter Dauerton schafft einen vibrierenden Schwebezustand. Diesen generiert das Duo auch in dem titelgebenden Stück des Albums: Aus einem tiefen geisterhaft anmutenden Klangraum wird ein Motiv wiederholt und mit astralen Sounds entspannt-ruhig weitergesponnen. Dass der CD-Titel auf die 250 assoziativen Thesen des Architekten Michael Sorkin verweist – so der Pressetext -, erschließt sich dem geneigten Zuhörer vielleicht nicht unmittelbar. Aber die beiden Soundtüftler verblüffen mit ihrem ausgesprochen assoziativen Zugang, mit immer wieder neuen Klangideen. Sie verknüpfen dabei Riffs, ostinate Muster mit komplexen Klanggebilden, die mal an eine Mundharmonika, mal an eine gestopfte Trompete, oder auch an Schnarchtöne oder an Entengeschnatter erinnern und unterschiedliche raffinierte Tonschichtungen kreieren. Auch mit dem Hechtyphon demonstriert Florian Walter überzeugend - wie in seinen Solo-Programmen mit Tubax oder Kontrabassklarinette -, wie er sein Instrument nicht zum effektvollen Selbstzweck einsetzt, sondern im wörtlichen Sinne als Mittel zum Zweck innovativen Klangerzeugens.

Hier versagt das Beschreibungsvokabular

Als grundlegende Tonfärbung des Albums dominiert ein eher relaxter Gestus, der nur zum Teil von expressiven, schrillen und klagenden Elementen durchzogen ist. Das Beschreibungsvokabular versagt angesichts der verblüffenden und atmosphärisch dichten Kompositionen. Mit ihrem originellen Charakter korrespondieren die rätselhaften Titel wie Merry-Go-Round/Trespass, Quest, 1.000.000 A.D., Abstractions On Bioengineering oder Interlude-Æ. Konzipiert sind die Stücke laut eigener Aussage der beiden Musiker als „imaginärer Soundtrack für einen retrofuturistischen Weltraumwestern“, na ja, diese Assoziationsfolie ist nicht unbedingt nötig, um beim Hören der acht Titel seinen eigenen Ideen- und Bilderfluss in Gang zu bringen. Von der Musik gehen jedenfalls starke Impulse für ein bilderreiches Kopfkino aus.

Aufmachung, Titelgebung, Instrumentierung und vor allem die Soundkreationen des aktuellen Albums von Mart Soo und Florian Walter sind in der Tat un-gewöhnlich und ungewöhnlich spannend – ein weiteres Beispiel aus dem überaus kreativen Kraftzentrum des NRW-Labels Umland Records und seiner vitalen Impro-Szene.

The Golden And Other Ratios

Umland Records 34/Improtest Records 15, 2020

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