Maria Faust 'Sacrum Facere'
MARCHES REWOUND & REWRITTEN
Kopenhagen, 21.05.2025
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Gabriela Urm
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Gabriela Urm
In Zeiten von Krieg und Gewalt in Europa entkleidet die dänisch-estnische Saxophonistin Maria Faust den militärischen Marsch seiner Propaganda und gibt den Opfern aller Kriege eine Stimme. Ihr neues Album "Marches Rewound & Rewritten" dekonstruiert gekonnt eine musikalische Form, die jahrhundertelang Macht und Unterwerfung symbolisierte – ein hochaktueller künstlerischer Kommentar zur fragilen Weltlage, der unter die Haut geht.
Ungewöhnlich ist nicht nur dieses Album. Ungewöhnlich ist auch, dass der Staatspräsident von Estland, Toomas Hendrik Ilves, dazu die Liner Notes geschrieben hat - die sind treffend genug, dass sie hier ausführlich zitiert sein sollen: „Maria Faust, die außergewöhnliche estnisch-dänische Saxophonistin, interpretiert die militaristischste Form der Musik neu: den Marsch, eine Form, die in erster Linie mit Armeen und männlicher Tapferkeit assoziiert wird. Allzu oft ist diese Form propagandistisch, erinnert an Siege oder ist sogar feierlich und festlich, wie beispielsweise der bekannte Radetzky-Marsch. Wir vergessen jedoch, dass für die Opfer des Krieges, diejenigen, die in ihren eigenen Städten und auf dem Land den Trommelschlag und die marschierenden Füße hören, der Klang einer herannahenden Armee selten ein gutes Omen ist. Für Zivilisten, die unschuldigen Opfer des Krieges, bedeutet der Klang marschierender Armeen Tod, Zerstörung und, wie wir bei Russlands Invasion in der Ukraine gesehen haben, die schrecklichsten Verbrechen – Folter, außergerichtliche Hinrichtungen und Massenvergewaltigungen.
Die Tragödie, der sich die Zivilbevölkerung im Krieg aussetzt, wird auf dieser Platte in den Vordergrund gerückt, auf der der Marsch, die übliche musikalische Begleitung von Krieg und Armeen, kaum feierlich ist, sondern ein breites Spektrum an Emotionen abdeckt – tragisch, unheilvoll, ahnungsvoll und traurig, um seine traditionellere Rolle, marschierende Soldaten im Gleichschritt zu halten, zu ergänzen. Zu diesem Zweck und passend zur Marschform verwenden Fausts Kompositionen weitaus mehr perkussive Elemente, als wir es von Jazzplatten gewohnt sind. Tatsächlich ist diese Platte vor allem ein Dialog zwischen einer breiten Palette von Emotionen, die Maria Fausts großartigem Spiel zur Verfügung stehen und durch sie zum Ausdruck gebracht werden, und der unerbittlichen, treibenden Präsenz der Snare Drum, die uns stets daran erinnert, dass Krieg im Gange ist. Für zu viele ist Krieg etwas Abstraktes, Glorifiziertes und Erhabenes, Teil der DNA der Kultur, eine Quelle des Nationalstolzes … Und für manche ist der Krieg, seine Auswirkungen, das Leid und der Schrecken, die Folgen von Besatzung und Repressalien – der Marsch – ein lebendiger, realer und tragischer Teil der Erinnerung. Genau das lässt uns Maria Faust verstehen."
Vom Werkzeug der Tyrannei zum eigenständigen Werk
Maria Fausts Werke sind für ihre Sozialkritik bekannt, und sie scheut sich nicht, in ihrer Musik politische Ansichten zu äußern. Sie befreit den Marsch von einem Werkzeug der Tyrannei und macht ihn zu einem eigenständigen Werk. Die estnische, in Kopenhagen lebende Komponistin und Saxophonistin Maria Faust wurde 1979 in Estland geboren, das damals noch zur Sowjetunion gehörte. Dort gehörte der Marsch als Propagandamittel zum Soundtrack ihres täglichen Lebens. Schon früh gewöhnte sie sich, wie viele andere Bürger der Sowjetunion, daran, die Welt zwischen den Zeilen zu lesen, die Musik als Versteck zu nutzen und zu lernen, dass die Kunst oft der einzige Ort ist, an dem man Freiheit und Wahrheit finden kann.
„Marches Rewound & Rewritten" ist das dritte Album des Projekts „Sacrum Facere". Mit den ersten beiden Alben „Sacrum Facere" und „Organ" thematisierte sie den Platz und die Aufgabe der Frau in der Gesellschaft und die weibliche Identität in Bezug auf reproduktive Zwecke und Rechte. Bei „Sacrum Facere" spielte Maria Faust mit einem Bläser-Sextett, das gemeinsam mit der Sängerin Kristi Mühling und Pianist Emanuele Maniscalco estnische Folklore und traditionellen Runo-Gesang der ostseefinnischen Völker mit Elementen aus Jazz und Klassik kombinierte. Auf „Organ" nehmen die Bläser dabei den Klang der von Maniscalco gespielten Kirchenorgel auf.
Faust will mit ihrem neuen Album den Marsch von einem Werkzeug der Tyrannei zu einem eigenständigen Werk machen. Es ist ein sozialkritisches Werk, das die Aufmerksamkeit auf die alten Schmerzpunkte unserer Welt lenkt - Tyrannei, Hierarchie, Gewalt und den Wert des menschlichen Lebens.
Zum Line-Up des Oktetts gehören Alt- und Tenorsaxophon, Klarinette, Bassklarinette, Baritonhorn, Trompete, Posaune, Tuba, Snare Drum, Bass Drum und Percussion. Sämtliche Stücke sind mit „MARCH" betitelt und fortlaufend durchnummeriert. Dabei wird die Liedform Marsch karikiert, regelrecht zerlegt und in einem neuen Kontext zusammengefügt. Militärische Befehle sind zu hören, Trommelwirbel, oft meint man den Schritt marschierender Soldaten zu hören. Der Sound der Blasinstrumente ist zwiespältig. Signalisiert er Feierlichkeit und Triumph – oder Bedrohung und Angst? Es kommt wohl darauf an, aus welcher Perspektive man es hört – die der Sieger oder der Opfer.
Maria Faust geht es um die Opfer. Dieses Album kann man nicht so nebenbei hören. Es ist sehr anspruchsvoll und lädt dazu ein, sich mit der Musikform Marsch auseinanderzusetzen und – vielleicht auch beim deutschen „Großen Zapfenstreich" - mal genauer hinzuhören.
Maria Faust – alto saxophone.
Francesco Bigoni – tenor saxophone, clarinet.
Anders Bank – bass clarinet, baritone horn.
Kasper Tranberg – trumpet.
Mads Hyhne – trombone.
Jonatan Ahlbom – tuba.
Emanuele Maniscalco – snare drum.
Peter Ole Jørgensen – bass drum, crotales, percussion.
Maria Faust Sacrum Facere – Marches Rewound & Rewritten
Vertrieb: inakustik
VÖ: 30.5. 2025