Jon Balke
Siwan
TEXT: Peter E. Rytz |
Transidiomatische Klangkunst
Musik von Jon Balke ist immer ein Versprechen, abendländische Musiktraditionen mit denen des Morgenlandes symbiotisch zu verbinden. Hafla, bei ECM mit dem Ensemble Siwan veröffentlicht, löst es unbedingt ein.
Vom kreativen Geist Al-Andalus‘ inspiriert, webt der norwegische Pianist Balke zusammen mit der algerischen Sängerin Mona Boutchebak und Musikern mit arabisch traditionellen Instrumenten sowie mit Barocksolisten um Bjarte Eike (baroque violin) exotische Klangteppiche. Im Verständnis eines transidiomatischen Musikkollektivs konjugieren sie einzelne kulturell geprägte Idiome in einen märchenhaft narrativen Sound. Sie legen Traumpfade in melancholisch bis tragisch gestimmter Klangfülle aus.
Insbesondere die mit der Volksmusik verbundenen Instrumente, wie Quitra (algerische Laute, Oud) oder die Kemençe (pontische Lyra, 3saitige Kastenhalslaute), gespielt von Boutchebak und Derya Turkansowie die Tombak (Kelch-/Bechertrommel) mit Pedram Khavar Zamini, perkussiv unterstützt vonHelge Norbakken, hüllen denSound mit verzaubernder Anmut ein. Die von Boutchebak interpretierten Texte, welche auf legendären Erzählungen des 11.Jahrhunderts der Ummayad-Prinzessin Wallada bint al-Mustakfi (1010-1091) und von Zeitgenossen wie Ibn Zaydun (1003-1071) und Ibn Sara As-Santarini (1043-1123) fußen, fließen in meditativer Verinnerlichung. Sanft und sacht, umschmeicheln sie die geplagte europäische Seele.
Transformation in eine Möglichkeitsform
Zehn der zwölf Tracks sind entsprechend vom vokalen Boutchebak-Kolorit bestimmt. Allein zwei Kompositionen (all compositions by Jon Balke) - Línea oscura und Saeta – zeichnen die poetisch lyrischen Texte, die die Tradition des arabischen Soziallebens der damaligen Zeit beschreiben, ohne Gesang, doch deshalb nicht weniger geheimnisvoll. Sie transformieren die exotische Klanglichkeit in eine Möglichkeitsform europäisch geprägter Ohren – und Seelen.
Balkes Kompositionsverständnis geht von einer kollektiven, kommunikativen Organisation aller Beteiligten aus. Ausgangspunkt ist in der Regel das gesungene Wort, das sich im prozessualen Austausch mit Boutchebak klärt. Seine melodischen Einfälle, die häufig beim Spazierengehen passieren, übersetzt sie in eine auf Arabisch gesungene Version. Das Material wird mit den parallel entwickelten Arrangements für Streicher und Schlagwerk transidiomatisch zusammengefügt.
Während das Barock-Ensemble sich auf eine Partitur verlassen kann, vertraut Balke auf die instinktive Kreativität seiner traditionell sozialisierten Musiker, denen das Lesen einer Komposition eher fremd ist. Auf Phantasie setzen, Grenzen überschreiten, gemeinsam einem kontemplativ gegründeten Impuls folgen.
Wie es Balke mit seinem Siwan-Kollektiv gelingt, mit einer gehörigen Portion sinnlichen Esprits die instrumentalen Kräfte zu bündeln, lädt mit Hafla zum Lauschen ein.
Hafla, Jon Balke, Siwan© ECM 2022
Peter E. Rytz