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Jimmy Giuffre 3

Graz, live 1961

Marl, 16.02.2020
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper

Es gibt Aufnahmen, die sind so fortschrittlich auf der Höhe der Zeit, aufs Wesentliche fokussiert und atmen die Zukunft, obwohl sie jetzt schon über ein halbes Jahrhundert alt sind. Jimmy Giuffre, Paul Bley und Steve Swallow kamen 1961 in Graz zusammen und ließen die Luft brennen. Der Mitschnitt ist soeben durch das Schweizer Hathut Label im Zuge der neuen ezzthetics-Reihe für die Nachwelt Zukunft zugänglich gemacht worden. Bislang waren nur Auszüge als Bootleg erhältlich.

Zu erleben ist eine Triobesetzung, die bei aller freien Radikalität doch eine Vision verfolgt, Musik aus tiefer Seele hervor bringt und dabei in ihrer Diktion auf atemberaubender Weise ihrer Zeit voraus scheint. Diese drei Spieler, vor allem Jimmy Giuffre sind nah dran an den Errungenschaften der klassischen musikalischen Moderne des 20. Jahrhunderts. So manche clusterhafte dissonante Zusammenballung des Materials könnte direkt in der Zweiten Wiener Schule wurzeln. Auf jeden Fall fühlt sich all dies noch sehr frisch an zu diesem Zeitpunkt, das ist hör und spürbar. Harmonische, vor allem, disharmonische Möglichkeiten in diesem Labyrinth zu durchkämmen, darum geht es. Ebenso, durch kühne Spiellust alles bisherige und schablonenhafte abzuschütteln, denn die höhere Wahrheit liegt erst jenseits davon. Jimmy Giuffre ist der ganze Tonumfang der Klarinette gerade groß genug. Sein Ton, oft nicht einer gewissen Härte entbehrend, gleißt und strahlt und scheint permanent nur noch eine winzige Nuance vom Punkt des Verglühens entfernt. Paul Bley am Klavier entfaltet auf engstem Raum all das, wodurch sein Spiel zu dem wird, was es ist, vor allem auf ihren genialen Gratwanderungen zwischen Abstraktion und subtiler Lyrik. Paul Bleys Spiel ist ein Kosmos unfassbarer Reichhaltigkeit - mal scheppernd-kantig wie Monk, zuweilen auch mit Präparationen und schier endlos ausgelebter Anschlagsfinesse.

Steve Swallow, hier auf dem akustischen Bass, ist meist viel mehr im Zentrum als untenrum unterwegs, zumal Paul Bley schon ausgiebig genug von seiner Vorliebe für pechschwarze Basstöne auf dem Flügel Gebrauch macht. Zuweilen reicht Swallow nur ein einziger repetierter Ton für viel mehr, als wozu sonst eine ganze Rhythmusgruppe aufmarschiert. Die Spannungsbögen der Stücke sind völlig unberechenbar - mal nachdenklich, fast rezitativisch verharrend, dann impulsiv vorwärts preschend und gerne auch in atonalen kontrapunktischen Linien miteinander verschränkt. Aber dann erobert auch wieder Bluesfeeling, Lässigkeit und wärmende Seele den Raum. Die vielgestaltigen Stücke bieten genug Abschwellung, lassen die 75 Minuten Spielzeit wie im Flug vergehen und haben zuweilen auch einen eigenwillig tänzerischen Groove. Im späteren Verlauf bietet unter anderen „Suite for Germany“ alles andere als mitsingbaren C-Dur und Viervierteltakt, hier soll wohl eher durch noch mehr Dissonanz ein apokalypisches Fazit gezogen werden, denn auch das Kriegsende, das zu diesem Zeitpunkt gerade erst 16 Jahre her ist, fühlt sich wohl noch „frischer“ an.

Fazit: Hier sind drei eben nicht irgendwo angekommen. Vielmehr mutet jeder Ton wie ein Appell zum Aufbruch an. Man höre und staune!

Jimmy Giuffre 3

Graz

Live 1961

hathutrecords 2019

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