Jazzrausch Bigband
Emergenz - not emergency
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Heinz Schlinkert
Erst Pfingsten habe ich die Band in Essen erlebt. Über die Musik, aber auch über die Tanzperformance und die gewaltigen Lichteffekte entfaltete die Band eine Dynamik , die die Zuhörer von den Stühlen riss. Wie aber ist das, wenn man die Musik nur von CD hört?
Auch so eine junge Band wie die Jazzrausch Bigband kann in die Jahre kommen. Nach acht Jahren ist im Mai ihr elftes Album Emergenz erschienen. Die Band hat mit der Verbindung von Jazz und Techno Furore gemacht. Mit dem Titel 'Emergenz' verspricht sie eine ständige Weiterentwicklung, aber kann die Band diesem Anspruch gerecht werden?
- Emergenz - not emergency
Dieses Album ist kein Notfall ('emergency'). Es geht vielmehr um Emergenz; ein nicht gerade landläufiger philosophischer Begriff, über den im Cover nur eine kurze Wiki-Erläuterung zu finden ist:
„In philosophy, system theory, science, and art, emergence occurs when an entity is observed to have properties its parts do not have their own, properties or behaviours which emerge only when the parts interact in a wider whole."
Das klingt nach der systemtheoretischen Binsenweisheit 'Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile'. Dazu passt der Titel des Stücks Autopoiesis, der den Prozesscharakter der Emergenz bezeichnet und für Entstehung, Erhaltung und Weiterentwicklung des Systems steht.
Es liegt nahe dies auch auf die Band selbst zu beziehen, wenn diese Begriffe nicht nur ein pseudointellektueller Anstrich sein sollen. Die Band hat unterschiedliche, fast gegensätzliche Genres zu etwas Neuem verschmolzen, das weder Jazz noch Techno ist und etwas grundsätzlich Neues bildet. In seinen Arrangements hat Leonhard Kuhn zudem die Parts der Instrumente geschickt zusammengefügt.
Doch kann man die Musik im Grunde nicht ohne die Performance betrachten, zur der das Outfit der Musiker, die Tanzbewegungen und Ansagen sowie die Lichteffekte gehören. 110 Konzerte in einem Jahr machen deshalb schon Sinn, wenn man die Musik als Ganzes rüberbringen will. Um der Musik gerecht zu werden, müsste man sich deshalb beim 'Abhören' der CD die Konzertperformance zusätzlich vorstellen, denn sie ist unteilbarer Bestandteil dieser Musik.
- Rätsel: Rote Kammer - Cyperaceae - Plagwitz Calling
Mit Go! Go! Go! beginnt die CD. Dieses Stück wurde auch in Essen gespielt und hat mich dort nicht recht überzeugt. Das gilt auch für die CD-Version, denn der Groove von „GoGogo GoGogo“ in Dreiklangs-Melodik hört sich für meine Ohren banal an, da hilft auch die von Patricia Römer gesungene Lyrik von Gertrude Stein nicht weiter, einziger Lichtblick Florian Leuschner am BaritonSax.
Manche Titel geben Rätsel auf: Rote Kammer - geht es um die chinesische 300 Jahre alte Familiensaga? Cyperaceae – ein Cybergewächs? Plagwitz Calling - Stadtteil von Leipzig, warum? Erläuterungen wie bei früheren Alben habe ich vermisst und die stark bebilderte, aber textarme Homepage hilft da auch nicht weiter. Merch(andise) scheint wichtiger zu sein.
- Life Performance oder isoliertes Zuhören?
Sicher kann man nach allen Stücken tanzen und auch alle Stücke gut hören. Die Konzerte zeigen aber, dass manche Stücke für den Live Auftritt geeigneter sind als andere. So wurde das Konzert in Essen mit Green Sun eröffnet und mit der entsprechenden Reprise-Version beendet, weil das Stück mit dem akzentuierten Groove und den – hier grünen - Lichteffekten das Publikum unmittelbar anspricht.
Five Dice, Plagwitz Calling, Ticking Time Bomb und Money Talks zählen für mich zu den 'Konzert-Stücken' und erinnern manchmal an frühere Stücke. Andere - wie As Darkness Fell, Emergent Evolution, Rote Kammer und Have You Heard – sind melodischer und kommen auch ohne Performance gut rüber.
Channel 23, Cyperaceae und Untalk fallen auf, weil sie nur 1 min. lang sind, kurze Impressionen, eine Art Interludes, die mich an sehr kurze, programmmusikähnliche Stücke auf Alben von Calexico erinnern.
As darkness fell ist mir sofort aufgefallen. Die russischsprachige Trompeterin Angela Avetisyan singt hier einen russischen Text, in dem es darum geht, dass sie "Musik hört, die sie in die Ewigkeit trägt". Eher banal, aber der Klang der russischen Sprache passt gut zu der etwas melancholischen Melodie und dem Klang von Julian Hesses Trompete. Zudem hat das Stück vielleicht angesichts des Ukraine-Kriegs inzwischen eine besondere Bedeutung. Trotz aller Probleme stellt es den Wert der russischen Kultur heraus, zu der keine Brücken abgebrochen werden sollen.
Bei Emergent Evolution kann man aufhorchen. Aus einem scheinbar unkoordinierten Spiel und in einer Art Stimmengewirr von Einzeltönen der Bläser schälen sich motivähnliche Fragmente heraus. Man kann sich hier gut Roman Sladek vorstellen, wie er mit seiner Posaune dirigiert und die Band zusammenhält. Hier ist er mit einem Solo vertreten, in dem er unterschiedliche Melodien zitatmäßig anklingen lässt, diese aber nicht ausspielt. Sehr interessant sind auch die rhythmisch/metrischen Verschiebungen, bei denen man bei der Takt-Bestimmung in Grübeln kommen könnte. Der Titel des Stücks bringt die Sache auf den Punkt, denn hier bilden wirklich unterschiedliche musikalische Elemente eine emergente Einheit.
Have You Heard kommt dem klassischen Jazz am nächsten. Klar erkennbare Strophen gesungen von Alma Naidu - wohl wie immer in der hinteren Reihe der Band - mit kurzen Bläsersätzen und einem eindrucksvollen Solo am Sopransax von Bettina Mailer. Mich hat's manchmal an die alte Jazzrock-Band Chicago erinnert.
- Orbits: Wayne Shorter + Jazzrausch
Alle Stücke wurden von Leonhard Kuhn komponiert, fast alle, denn Orbits stammt von Wayne Shorter. Jazzrausch interpretiert hier wohl zum ersten Mal einen Jazz Standard, den man sogar im Real Book findet. Im 2. Quintet von Miles Davis hatte Shorter dies Stück 1967 auf Miles Smiles u. a. mit Herbie Hancock gespielt, 2003 auf Alegria noch einmal mit einem Orchester aufgenommen. Nachdem er es 2011 auf einer Europa-Tournee gespielt hatte, wurde es 2013 auf seinem Album Without A Net veröffentlicht (s. o.). Ein Jahr später erhielt Shorter dafür den Grammy Award (Best Jazz Instrumental Solo).
Jazzrausch spielt Orbits nun im Bigband-Format. Modaler Jazz und Techno, wie geht nun das zusammen? Zusammen geht’s immer über Soli und da hat Daniel Klingl keine Mühe – am SopranSax wie Shorter – seine Töne zu finden, die anfangs an Coltrane erinnern. Wie im Original ist das Thema in einem ständigen Ostinato immer präsent, vor allem über die Bassbläser; die Bassklarinette von Florian Leuschner oszilliert im Hintergrund. Der technotypische Puls ist da, bleibt aber moderat. Im Grunde läuft das Stück nach dem bewährten Strickmuster 'Techno-Puls + Jazzsolo'. Das könnte ein Türöffner für traditionellen Jazz sein, aber will man das? Auf jeden Fall hören wir hier einen etwas anderen Bigband-Sound, der vielleicht zukunftsweisend sein könnte.
- Unterm Strich - Emergenz ?
Dies Album setzt die erfolgreiche Arbeit der Bigband fort. Aus Jazz-Sicht fallen vor allem die Solisten auf: Angela Avetisyan (bes. das kurze Solo bei Autopoiesis), Roman Sladek (Emergent Evolution), Frederick Mayman (Present Tense) und nicht zuletzt Florian Leuschner, der mit seinen diversen BassBlasInstrumten fast immer präsent ist. Diese Musiker hatten z. T. schon vorher eigene Bands, sind aber über Jazzrausch erst richtig bekannt geworden.
Eine emergente Weiterentwicklung des Jazzrausch-Projekts wie ihn der Albumtitel verspricht sehe ich nur in Ansätzen; auch weil unklar bleibt, worauf dieser Begriff genau bezogen wird. So sehe ich eher einen 'Systemerhalt', bei dem erfolgreiche Linien weitergeführt werden. Neu ist die Aufnahme eines Jazz Standards.
Ich vermisse ein Stück wie Mosaique, Green Sun oder Hurricane Ride vom letzten Album, das 'nachhaltig' in den Köpfen bleibt. Auf jeden Fall ist der Besuch eines Konzerts zu empfehlen, damit man diese Musik 100%ig verstehen und genießen kann.
Nächste Gelegenheit in NRW: 7.12. in Essen und 16.12. in Düsseldorf
Jazzrausch Bigband: Emergenz
Label: ACT 2022
Bestellnummer: CD 1091434
Erscheinungstermin: 27.5.2022
Fotos: Konzert am 4.6.22 in Essen, Zeche Zollverein