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Gelungener Aufschlag

Daniel Martin Feiges 'Philosophie des Jazz'

Bochum, 20.12.2014
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | 

Der Titel weckt vielfältige Erwartungen und Assoziationen: „Philosophie des Jazz“ klingt deutlich umfassender, als die Publikation von 142 Seiten wirklich an Versprechen einlöst, einlösen kann. Um es vorwegzunehmen: Daniel Martin Feige gibt uns in der Tat eine erste Einführung in eine Jazz-Philosophie, eine „philosophische Skizze des Jazz als einer bestimmten Art künstlerischer Musik“. Das ist allerdings nicht geringzuschätzen, ist zumindest seit Adornos geradezu diffamierender Fehleinschätzung des Jazz im deutschsprachigen Raum bis auf etwa den leider viel zu früh verstorbenen klugen Kontrabassisten Peter Niklas Wilson wenig an Reflexionen über Jazz zu vermelden. Damit ist das schmale Suhrkamp-Bändchen sicherlich prinzipiell erst einmal zu begrüßen, zumal sein Autor nach eigenem Bekenntnis zunächst als professioneller Jazzpianist tätig war, bevor er sich der akademischen Philosophie als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität Berlin widmete. Der jazzmusizierende Philosoph kann so in seinen Betrachtungen wertvolle Felderfahrung einbringen - er tut dies allerdings explizit sehr spärlich, genauso wie er spärlich – bis auf wenige Namensnennungen – Musikerkollegen als Beispiele für seine Thesen und Argumentationen heranzieht. Der Duktus des Bändchens ist dabei schon ziemlich „philosophisch“, Feiges Ableitungen sind streng begriffsanalytisch, stellenweise betulich und in vielen Wiederholungen redundant. Trotzdem muss man dem Autor eine prägnante Sprache zugute halten, seine Aussagen sind klar und berühren Kernfragen einer Philosophie des Jazz als einer Sonderform der Musik- und noch allgemeiner: der Kunstphilosophie.

Interessant sind bei der Suche nach dem Spezifischen des Jazz gängige Vor-Urteile und scheinbare Gewissheiten, mit denen Feige aufräumt. Dies erfolgt in dem Herausarbeiten von „Kontrasten“, von definitorischen Abgrenzungen zwischen Jazz und europäischer Kunstmusik: Improvisation – Komposition; improvisierten Performances und solchen, die Darbietungen von Werken, im gängigen Sprachgebrauch: Interpretationen sind; der Rolle des Individuellen und des Kollektiven; der Bezug zur Tradition. Feige weist in seinen kontrastierenden Ableitungen schlüssig nach, dass die gängigen Unterscheidungen zwischen Jazz und europäischer Kunstmusik nicht so einfach sind, wie sie sich als Stereotype etabliert haben: Improvisation reicht als hinreichendes Kriterium für Jazz nicht aus, in der Tradition der europäischen Kunstmusik etwa aus dem 18. Jahrhundert oder in der Neuen Musik oder in der Kirchenmusik gibt es auch improvisierende Elemente – von außereuropäischen Musikstilen und –traditionen ganz zu schweigen. Der Werk-Charakter von „klassischer“ Musik gewinnt erst durch seine jeweilige spezifische Aufführung, durch seine Performance seine (rezeptions-)ästhetische Bedeutung. Ein Werk der Kunstmusik besteht eben nicht aus einem unumstößlich gültigen und eindeutig in der Partitur fixierten Produkt, sondern die jeweilige Aufführung bedeutet einen nie abgeschlossenen Prozess, eine immer wieder neu auszuhandelnde Aufführungspraxis. Umgekehrt hat auch der Jazz selbstverständlich mit Kompositionen und in diesem Sinne mit „Werken“ zu tun: Ausnotierte und durcharrangierte Kompositionen sind auch im Jazz, bei Big Bands, im Swing oder auch bei kleinen Besetzungen durchaus üblich, auch gibt es Jazz-Musik ohne jegliche Improvisation. In diesem Sinne hat Jazz auch Werk-Charakter, ob in komponierten Stücken, ob ansatzweise in den Standards, die im Moment des gemeinsamen Spielens jeweilig interaktiv neu ausgehandelt werden. Improvisation und Komposition sind somit keine eindeutigen Unterscheidungs- und damit Definitionskriterien, sie markieren keine prinzipiellen, sondern graduelle Unterschiede.

Feige neigt hier nicht zum Relativieren, sondern weist – am überzeugendsten in dem Kapitel zum Werk und zum Standard – nach, dass Jazz und Kunstmusik durchaus verschieden sind, dass die Performance in der Kunstmusik nicht mit der Improvisation des Jazz gleichzusetzen ist, ihr Unterschied ist in der Form, nicht im Inhalt der musikalischen Praxis (25) zu sehen, oder – so seine Kernthese: „Was im Jazz explizit ist, ist in der Tradition europäischer Kunstmusik implizit.“ (25), oder: „Im Jazz tritt ein wesentliches Merkmal musikalischer Praxis überhaupt expliziter zutage als in der Tradition europäischer Kunstmusik, ein Merkmal, das gleichwohl auch für diese bestimmend ist.“ (56) D.h. Performance in einem „Werk“ oder in einer „Improvisation“ eignet sich nicht als prinzipielles Unterscheidungskriterium, sondern die beiden Arten der Performance folgen grundsätzlich einer identischen Logik, sie sind lediglich unterschiedliche Formen einer musikalischen Praxis. Das Nachdenken über Jazz erweist sich übrigens hier auch als Erkenntnisquelle für die Kunstmusik.

Am Schluss des Bändchens kommt Feige auf die philosophische Relevanz des Jazz, in der Summa wird’s kunstphilosophisch: Im Jazz macht Feige ein Strukturmoment anderer Künste aus. Jazz als wesentlich interaktive und dialogische Kunstform birgt eine „ethische Valenz“: Jazz ist – zumindest in seiner Geschichte – auch politisch-emanzipativ, er ist ein „Idealmodell menschlicher Gemeinschaften“ (117). Ethische Valenz im Jazz erkennt Feige vor allem darin, „...dass gelungene Jazzperformances in ethischer Hinsicht exemplifizieren, was es heißt, sich anzuerkennen und füreinander Verantwortung zu tragen.“ Oder in seiner gipfelnden These: „Gelingende Jazzperformances sind ästhetische Miniaturen einer gelingenden Lebensführung überhaupt.“ (120) Wow, eine gewichtige Aussage, über die in Zeiten von omnipräsenten monologischen Selbstdarstellungsorgien nachzudenken lohnt. Das Dialogische, das Entdecken und Entwickeln eigener und fremder Potenziale in der Interaktion sind in der Tat Vorbilder fürs gelingende Zusammenleben.

Die Beiträge von Feige sind im Erkenntnisgehalt nicht immer gänzlich neu, in ihrer Systematik und in vielen Teilaspekten jedoch ausgesprochen inspirierend. Seine philosophischen Reflexionen bilden eine spannende Basis für weitere philosophische und v.a. auch interdisziplinäre Ansätze, gemeinsam mit der Musikwissenschaft, Soziologie, Psychologie, Kunst und Kulturgeschichte weiterzugehen und zu erklären, was Jazz oder überhaupt performative Ästhetik sei oder sein könnte. Ein gelungener Aufschlag ist gemacht.

Daniel Martin Feige: Philosophie des Jazz.

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2096.

Berlin 2014.

142 Seiten, 14 Euro

ISBN 978-3-518-29696-7

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