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Futura Bold

Hoher Anspruch an Ästhetik und Reflexion improvisierter Musik

Essen, 30.10.2020
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | 

Ein Manifest, auch wenn es sich als „Entwurf“ kleinredet, arbeitet definitionsgemäß mit großen Worten, schließlich wird ein programmatischer Neuansatz – nicht selten mit revolutionärem Impetus – proklamiert. Wenn dies im musikalischen Umfeld geschieht, lässt ein solcher Ansatz besonders aufhorchen, die Konfrontation von abstrakten gedanklichen Konstrukten mit per se abstrakten musikalischen Ausformungen ermöglicht zumindest eine zusätzliche Rezeptionsebene und damit ein mögliches ästhetisches Vergnügen. Um es vorwegzunehmen: Genau dies verschafft das neue Album Futura Bold von dem Trio Meat.Karaoke.Quality.Time mit den beiden Saxophonisten Jan Klare und Florian Walter und dem Drummer/Perkussionisten Karl-F. Degenhardt. Gewohnt ist man von den drei NRW-Musikern im Umfeld von The Dorf, dem Label Umland Records und von ihren diversen Band- und Solo-Projekten einiges an Wandlungsfähigkeit, an Überraschungen und erfrischenden Schubladen-Sprengungen. Ihre dekonstruktive Power führt immer wieder zu erstaunlichen und bemerkenswerten Sound-Kreationen. Ihr neues Album bleibt diesem Anspruch voll und ganz treu.

Klingt der kurze Opener cool bergamotte/blood noch synthi-geladen „saxophonistisch“, lassen die folgenden Tracks bis auf den gepitchten Saxo-Sound in melodic studies (part 2) keinen Bezug mehr zur Saxophonie erkennen. Wie auch, Jan Klare und Florian Walter bespielen beide einen elektronischen Blaswandler und nutzen dessen Soundmodul und zusätzlich einen Synthesizer mit Moog-Sounds, Karl-F. Degenhardt für die Perkussion ein Sampling Pad und diverse Soundgenerator- und Effekt-Technologie. Das Trio bedient sich dieser Technik, um einen zum Teil sphärischen, rätselhaften bis verstörenden Klangkosmos zu schaffen. Unverkennbar sind die zitierenden Bezüge zur Musik der 80er Jahre, etwa zu Bob Mintzer oder Michael Brecker, die mit Stimm-Samples, mit einer ganzen Reihe von Effekten aus der Trickkiste der Soundgeneratoren verfremdet werden. Die 17 Titel des 79-minütigen (!) Live-Mitschnitts lassen dabei einen eigenen Klangcharakter entstehen.

Die Einteilung der Titel in vier Parts (My Body Is a Perfect State/Deepframing Reality/Exil und Tod/Connected Cocooning) und die Titelgebung entsprechen dem Rätselhaften der Musik und eröffnen zusätzliche – sehr freie – Assoziationsräume in Bezug auf das Gehörte.

Ein straighter Rhythmus mit tanzbaren Ansätzen etwa wie in lithium/lucid oder das Basedrum-getriebene a clearing, ritual dances, soil, prospect versteht sich manifestgemäß als „Zitat kulturindustrieller Eskapismusangebote eines 20. Jahrhunderts“, überhaupt verbleibt die Perkussion bei aller digitalisierten Umwandlung am ehesten im Bereich der vertrauten Drum-Formate. Die Ansprüche, die das Trio mit ihrer Musik formuliert, sind hochgesteckt, so ist die Rede von „… selbstironisch gebrochener Radneuerfindung retrofuturistischer Klischees…“ und dem „…Rückgriff auf etablierte Zeichen- und Referenzsysteme von Synth- und Vaporwave“, oder dem Glauben an „…Ambiguitätstoleranz und die unveräußerliche Notwendigkeit, alternative Sinnangebote zu generieren, ästhetische Welten zu entwerfen, die als soziale Räume nicht durch deterministische Kapitalstrukturen und überholte Distinktionen konstituiert werden, sondern sich durch Widerständigkeit definieren.“

Ob das Album als gelungener erster Ansatz anzusehen ist, den hoch gesteckten programmatischen Ansprüchen zu entsprechen, mag der geneigte Zuhörer selbst entscheiden. Auf jeden Fall bewegt sich das Album raffiniert und gekonnt-widerständig im Referenzraum der 80er Jahre und transzendiert diesen durch ein hochinteressantes Collagieren von Soundkreationen mit geradezu unerschöpflichem Assoziationsreichtum. Diesem Schaffensprozess liegt deutlich der Anspruch einer „aktiven Überschreibung und Umdeutung“ zugrunde. Und das ist auf jeden Fall ästhetisch beachtlich und verdient ebenso hohe Achtung wie der Impuls, improvisierte Musik neu zu reflektieren.

Der zititerte Text ist hier vollständig einzusehen.

Meat.Karaoke.Quality.Time: Futura Bold. Umland Records 35

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