Frédéric Döhl: Jazz 1959
Soundscape und Kanon
TEXT: Heinz Schlinkert |
1959 war viel los im Jazz. Miles Davis’ ‚Kind of Blue‘ und Brubecks ‚Time Out‘ sind in diesem Jahr erschienen und gelten bis heute als Meilensteine der Jazzgeschichte. In dem Buch von Frédéric Döhl geht es aber nicht nur um den Jazz dieses Jahres, die Fragestellung ist viel breiter angelegt und zudem hochaktuell.
„Anstelle eines Vorworts“ beginnt das Buch mit einer Liste von 159 Tracks aus dem Jazz von 1959. Die Stücke sind auch über eine spotify-playlist zu hören (s. u.). Der Autor empfiehlt: „Beim Anhören am besten auf Shuffle stellen und treiben lassen.“ (S.18)
‚Kind of Blue‘ - Kanon und Soundscape
Im ersten Kapitel geht es erst einmal um das oben genannte Album von Miles Davis, das geradezu paradigmatisch für die Aufbruchsstimmung im Jazz von 1959 steht. Anhand von sechs Argumenten wird seine Bedeutung als „genrestiftendes Album“ und als „Wasserscheide der Jazzgeschichte“ erklärt.
Im zweiten Kapitel unterscheidet der Autor zwischen dem ‚Kanon’, den bekannten Highlights und der ‚Soundscape‘, der Fülle der veröffentlichten Jazzmusik. Den Begriff ‚Soundscape‘ – das wird im Buch nicht erklärt – gibt es seit Ende der 60er Jahre. Er bezeichnet die akustische Prägung und Ausgestaltung eines Ortes, hier bezogen auf den Jazz als Klanglandschaft eines Jahres.
Zum ‚Kanon’ von 1959 gehören in einer ersten Gruppe neben ‚Kind of Blue‘ und ‚Time Out‘ zwei berühmte Alben von Mingus und Coleman. Eine weitere 4er Gruppe bilden Alben von Blakey, Coltrane, Davis und Bill Evans; im „zweiter Ring“ noch einmal 6 Alben, u. a. von Monk, Sun Ra und Ellington.
Anschließend folgt eine Liste von 800 (!) Titeln, die sich der Autor wohl alle angehört und als Jazz klassifiziert hat. Sie gehören für ihn zur Soundscape und wurden 1959 aufgenommen oder veröffentlicht.
Und so erklärt der Autor, worum es ihm in seinem Buch geht:
„Was mich dabei ... vor allem umtreibt, ist ein Vergleich: zwischen der klassischen Musikgeschichte von Jazz 1959 mit ihrem Fokus auf Kanon, Meister .. und einer Musikgeschichte von Jazz 1959 aus dem Nachbau und dem Hören der ganzen Soundscape des Jahrgangs heraus. … Macht es historiographisch einen Unterschied, wenn ich alles gehört habe? … Erzählt man eine andere Musikgeschichte, wenn sie derart vom eigenen Hören ausgeht?“
Seine „zentrale Hypothese hinter diesem Buch“ besteht „in der Annahme, dass es ein solches Herangehen heute mehr denn je braucht.“ (S. 53)
Weiter geht es mit Literatur-Recherchen unterschiedlicher Art. Deutlich wird bald, dass die dem Kanon zugehörigen Alben auch schon 1959 als Highlights anerkannt waren. Damit hätte das Buch eigentlich schon enden können. Doch der Autor geht noch einen Schritt weiter: Weil auch schon vor der Veröffentlichung der berühmten Alben von einer ‚Hochphase des Jazz‘ die Rede war, muss es auch schon vorher gute Alben gegeben haben. Welche waren das, wer kennt sie?
Nach der Auswertung vielfältiger Quellen, u. a. der Billboard und der Downbeat Charts von 1959 ergeben sich weitere Listen mit Stücken, die nicht zum Kanon gehören, die aber trotzdem sehr geschätzt wurden. Das Ziel ist eine „Annäherung an zentrale ästhetische Urteile der Zeit“ (S.142). Der Autor ist sich bewusst, dass die Auswahl der Stücke problematisch und auch von seinen eigenen ästhetischen Urteilen geprägt ist. Die Bereiche Festival, Film und das politische Engagement der Musiker bleiben in seiner Methodik außen vor, werden aber anhand von Beispielen angesprochen.
„Musikgeschichtsschreibung, New Jazz Studies, ChatGPT und das eigene Hören als Perspektive im Zeitalter von Digital Humanities und Künstlicher Intelligenz“
Dieser sperrige Titel bildet die Überschrift für das letzte, knapp 100 Seiten umfassende Kapitel des Buches. Der Autor reflektiert darin sein bisheriges Vorgehen und grenzt es von dem der traditionellen Musikwissenschaft ab. Seine „Forschungsreise ins Jazzjahr 1959“ endet mit einem Rückblick auf seine bisherigen Arbeiten, auch im klassischen Bereich. Vor allem aber stellt er Überlegungen an zu den Folgen des digitalen Wandels für die Jazz-Geschichtsschreibung, besonders was ‚ChatGPT & Co‘ und angeht. Sein Fazit formuliert er in einem Aufruf:
„Hört hin! Zeigt eure Leidenschaften! Und nutzt sie! Allein schon, um künftig überhaupt noch einschätzen zu können was die künstliche Intelligenz einem an Informationsauswertung liefert .. Lasst uns der KI die Sicherheit nehmen, was die richtige Antwort ist! Lasst uns ihr eine Vielfalt an Metanarrativen dagegensetzen!“
Frédéric Döhl – Musiker und Jurist
Döhls Qualifikationen und beruflichen Erfahrungen sind sehr vielfältig. Er studierte Musikwissenschaft und Jura an der FU Berlin. Er promovierte 2008 im Fach Musikwissenschaft über die Entstehung der Barbershop Harmony und habilitierte 2015 mit einer Arbeit Sampling und Urheberrecht am Beispiel von audiovisuellen Mashups. 2022 promovierte er in Hamburg zur Urheberrechtsreform. Auch in Dortmund war er tätig am Lehrstuhl für Musikjournalismus der TU. Seit 2018 ist er Strategiereferent für Digitale Transformation bei der Generaldirektion der Deutschen Nationalbibliothek. In dieser Funktion war er u. a. Hauptautor des Strategiepapiers Kulturen im digitalen Wandel.
PLAYLIST:
The »Jazz 1959« Book Opening Playlist
Frédéric Döhl: Jazz 1959
9/2024, 300 Seiten kart.,
ISBN 978-3-8376-5816-3
Das Buch kann auf der Seite des Verlages heruntergeladen werden:
E-Book (PDF), Open Access
9/2024, 300 Seiten
ISBN 978-3-8394-5816-7
Video zum Thema (wird im Buch nicht erwähnt):