Ensemble Modern im Dialog mit der KI
AION von Johannes Motschmann
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Barbara Fahle, Screenshot SWR
Die sogenannte Künstliche Intelligenz geistert oft wie ein Schreckgespenst durch die Welt der Kulturschaffenden. Aber ist es hier überhaupt sinnvoll, von „Intelligenz“ zu reden, wo es zunächst nur um immer effektivere Verfahren der Datenverarbeitung und -vernetzung geht und wo deren sinnvolle, ergebnisorientierte Anwendung immer noch eine Sache des menschlichen Willens und ja der Kreativität ist bzw. bleiben sollte? Wer auf der Höhe der Zeit agiert, egal in welcher Disziplin, schöpft das Beste aus neuen Möglichkeiten, aber immer mit dem Willen, etwas eigenes und echtes daraus zu formen.
Eine neue Arbeit des Komponisten Johannes Motschmann zusammen mit dem Ensemble Modern und dem SWR Experimentalstudio lässt eben solche Gedanken naheliegend erscheinen bzw zeugt davon, dass alle Beteiligten, vor allem der Komponist Johannes Motschmann in sinnvoller Weise darüber reflektieren. Motschmanns künstlerisches Selbstverständnis schließt auf jeden Fall nicht aus, auch dezidiert technikaffin zu sein. Seit 2019 arbeitet er mit dem Musikinformatiker Thomas Hummel vom Experimentalstudio des SWR an der Software AION – einer Echtzeit-KI, die auf Mustererkennung basiert und in der Lage ist, Musik in Echtzeit umzuformen, zu erweitern oder auch aus dem Nichts entstehen zu lassen.
Die Musikerinnen und Musiker lassen sich ihren aktiven Part nicht streitig machen
Aus diesen Experimenten ist nun die Komposition „AION“ entstanden. Zwar tobt sich der Algorithmus einer Maschine ordentlich aus, wenn vor allem ein automatisiertes Klavier zum Einsatz kommt. Aber drumherum lassen sich die feinfühligen Musikerinnen und Musiker dieser Aufnahme niemals ihren aktiven Part streitig machen, sodass es niemals seelenlos klingt, sondern im Gegenteil oft kontemplativ, ja spirituell anmutet.
Ätherische Klangimpressionen, aber auch Patterns, wie wir sie von Stücken Steve Reichs kennen, gepaart mit einem sensiblen Gespür für additive Verfahren – das alles sorgt hier für sich verdichtende dynamische Prozesse und liefert unablässig Material, aus dem die hochmotivierten Mitglieder des Ensemble Modern in den Dialog mit der „Maschine“ treten. Das Klavier, das im Zentrum steht, „beantwortet“ die spielerischen Gesten des Orchesters meist eigenständig. Aus so etwas erwachsen erweiterte, auch zufalls-generierte Rollen im Prozess des Musikmachens, ja, entsteht auch Improvisation.
Motschmann geht es bei seinen Kompositionen nicht um singuläre Verläufe, sondern vielmehr um Texturen, die oft wie ein perpetuum mobile wirken – was besonders für die ersten vier Stücke „Drones and Cycles“ gilt. „Con spirituo“ vollzieht einen Übergang zu stationäreren Klangimpressionen, in denen das Schlagwerk für viel obertonreichen Klangzauber sorgt.
Überlegene Versiertheit
„Ritournelle“ heißt ein Stück, in dem auf spätromantische Klangmassen angespielt wird. Das elektronische Geister-Piano in seinem funkelndem Selbst-Spiel weiß verblüffend exakt, wie darauf zu reagieren ist, damit Wirkung entsteht. Schwere rhythmische Synkopenimpulse kontrastieren mit flirrenden Streicherflagoletts und bringen immer neue Gesten- und Metrenwechsel im Stück „Fanfares and Latent Cycles“ hervor.
Die Herausforderung bleibt, bei so viel sinfonisch verdichteten Arrangements, in denen auch viele Blechbläser involviert sind, die Transparenz zu wahren. Hier zeigt sie sich wieder, wie wir sie auch von so vielen abenteuerlustigen, forschenden Projekten des Frankfurter Ensemble Modern kennen: jene überlegene Versiertheit, sich rasend schnell und ohne Umwege auf jedes noch so spieltechnisch akrobatische Abenteuer einzulassen.
Fazit: AION garantiert ein abwechslungsreiches und sinnliches Hörvergnügen, wenn es neue Techniken, die nicht mehr verschwinden werden, mit der menschlichen Dimension und 30jährigen Erfahrungsschatz, der hinter dem Ensemble Modern steht, so dass beides voneinander profitieren kann. Die hellwach aufspielenden Musikerinnen und Musiker unter Peter Tillings Leitung lassen sich auf jeden Fall durch keine technische Übermacht unterkriegen.
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