'DER KÜHNFAKTOR'
Ein Buch von und über Joachim Kühn
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Alfred Verlag
Joachim Kühn hat im letzten Jahr seinen 80. Geburtstag gefeiert. Über den international gefeierten Pianisten ist nun ein Buch erschienen, das eine ausführliche Autobiografie beinhaltet. Der Publizist Michael Brüning hat assistiert und ein ‚Intro‘ verfasst.
„DER KÜHNFAKTOR FREI + UNABHÄNGIG: NO LIMITS IM JAZZ“ lautet der Untertitel, der im Vorwort kurz mit folgendem Zitat erläutert wird:
„Ich will und ich muss mich nicht anpassen. Freiheit ist mein großes Ding. Ich versuche, es so weit zu treiben, wie es nur geht.“ (S.7)
Diese Rezension informiert über Inhalte des Buches und wirft die Frage auf, ob das Buch der Persönlichkeit Kühns gerecht wird.
Aufbau und Inhalte des Buches
Mit 150 von knapp 300 Seiten des Buches nimmt die Autobiografie den größten Raum ein, gefolgt von „Jubilee Statements: Belated Happy B-Day“. 60 berühmte Musiker gratulieren dort auf meist ein oder zwei Seiten dem Geburtstagskind, Foto inklusive. Danach kommen Ehrungen, ein Glossar und eine Übersicht über Kühns „Platten CDs, Produktionen, Filme etc.“ inkl. einer sehr detaillierten Übersicht über seine Fernsehaufnahmen. Es folgen ausführliche Personen-, Sach- und Titelregister. Viele, auch bunte Fotos sind zu sehen, darunter einige von Gemälden aus Kühns Ausstellung in Hamburg 2017. Über seine Aktivität als Maler wird sonst nicht berichtet.
Wegen der vielen Details wäre zur Orientierung ein Text in der Art eines Lebenslaufs gut gewesen, denn die Kapitelüberschriften sind thematisch formuliert und die Kapitel am Ende nicht chronologisch geordnet.
Am Anfang der Autobiografie geht es um die Kindheit in der DDR und um Kühns Herkunftsfamilie, die schon in DDR Zeiten privilegiert war und ihrem Sohn eine hervorragende musikalische Ausbildung bieten konnte. ‚Jazz in der DDR‘ ist da ein weiteres Thema, es geht um die Kulturpolitik der SED und ihre Auswirkungen auf den jungen Joachim Kühn, der schon früh bekannt wurde und auch in der Tschechoslowakei auftrat.
Es schließt sich die Geschichte von Kühns abenteuerlicher Flucht in den Westen an, die 1966 nach einem Konzert in Wien gelang. Viel Gewicht hat – berechtigterweise - das Verhältnis Joachim Kühns zu seinem 15 Jahre älterem Bruder Rolf Kühn, der schon lange vorher im Westen lebte.
Von da an geht es in dem Buch fast nur noch um Konzerte, Tourneen, Festivals, Jazzclubs, Radio- und Schallplattenaufnahmen, um Preise und Erfolge und Begegnungen mit Musikern und Persönlichkeiten wie J. E. Behrendt und Siggi Loch. Es wimmelt nur so von Namen berühmter Musiker. Nicht wirklich für den Leser transparent gemacht wird in diesem Buch die Story dahinter, eben warum Kühn - abgesehen von den Connections seines Bruders - so schnell international erfolgreich werden konnte.
Musiker und Privatmann
Das Lesen dieser Autobiografie gerät zuweilen etwas mühsam. Das Buch ist sicher ein Dokument zur Geschichte des deutschen Jazz, das im historisch-wissenschaftlichen Kontext interessant sein könnte. Doch durch eine so große Aneinanderreihung von Fakten entsteht noch nicht wirklich eine lesenswerte Story "hinter" der Musik und dieser einflussreichen Musiker-Persönlichkeit.
Über die Person Joachim Kühn ist nämlich nur wenig Neues und Tiefes zu erfahren: Ein privilegierter junger Mann erhält im Elternhaus eine exzellente Ausbildung, schreitet im Westen von Erfolg zu Erfolg und wird zu einem Weltstar. Gab es nicht nur Erfolge, sondern auch Zweifel, Brüche, Krisen, Rückschläge? Wenn überhaupt, dann kommt so etwas nur in Andeutungen zur Sprache. Von einer schwierigen psychischen Situation ist mal die Rede im Jahr 1979, als Kühn viel Alkohol trank, er bezeichnet sich im Text selbst als damals „größenwahnsinnig“ (S.93). Der „totale Flop“ des Albums ‚Don‘t stop me Now’ brachte ihn in finanzielle Nöte, aus denen ihm sein Bruder heraushalf. „2022 war ein grausames Jahr“ schreibt Kühn, weil seine Mutter und sein Bruder starben (S. 115, 155). Kühn hat seine „Trauer in die Musik gesteckt“ und eine private CD aufgenommen.
Andere Menschen werden hauptsächlich in ihrer Funktion als Musiker genannt. Wen man wo getroffen hat, mit wem man wo zusammengespielt hat - kaum etwas über persönliche Beziehungen ist zu erfahren, die Ausnahme bildet hier wiederum das Verhältnis zu seinem Bruder.
Der Umgang mit Frauen scheint problematisch, wenn Kühn über die Trennung von seiner Ehefrau in Hamburg berichtet. Ganz lapidar heißt es: „… die Ehe war auch nichts für mich, also sagte ich zu der Frau ‚Ich gehe mal eben Zigaretten kaufen‘ und bin 1984 direkt mit dem Auto nach Paris gefahren.“ (S.97) Auch in den Statements der 60 Musiker geht es vor allem um gemeinsame Aktivitäten, um Bewunderung und um Komplimente für Kühns Leistungen. Von tiefergehenden persönlichen Beziehungen ist hier kaum die Rede.
Eine verpasste Chance
War es eine bewusste Entscheidung, nur den Musiker Kühn zu porträtieren und den Privatmann Kühn weitgehend außen vor zu lassen? Schade, denn das wäre wirklich interessant gewesen, besonders was das Wechselspiel zwischen Musiker und Privatmann betrifft. Es ist zu vermuten, dass dieses Buch auf einer Reihe von Interviews basiert. Sehr wohl ist hier ein faktenreiches Werk entstanden, das sehr viele Informationen über die musikalischen Aktivitäten Kühns bietet, aber bei Persönlichkeit Joachim Kühn wenig in die Tiefe vordringt. So informativ und reichhaltig die Gesamtschau dieses Buches auch ist, so wenig bekommt der Leser bei der Lektüre das Gefühl, hier ein echtes, aufrichtiges Portrait vermittelt zu bekommen - Joachim Kühn mit seinem unbestechlichen künstlerischen Idealismus hätte hier mehr verdient. Andererseits: Vielleicht wollte Joachim Kühn, der sein ganzes Leben lang im Licht er Öffentlichkeit stand, an dieser Stelle auch nicht zu viel Privates, Persönliches preisgeben - was man natürlich respektieren muss.
Joachim Kühn; Michael Brüning, DER KÜHNFAKTOR - FREI + UNABHÄNGIG: NO LIMITS IM JAZZ
Verlag Alfred Music Publishing GmbH
Jazz Book Item: 00-20310G
Essen 2024
Abbildungen der Buchseiten mit freundlicher Genehmigung des Alfred Verlags