Bild für Beitrag: Camille Bertault | Pas de Géant -Giant Steps en France
Bild für Beitrag: Camille Bertault | Pas de Géant -Giant Steps en France

Camille Bertault

Pas de Géant -Giant Steps en France

Bochum, 14.03.2020
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: OKeh, Sunnyside

Erster Eindruck zu diesem Album: VIELFALT. Dies gilt für die Art der ausgewählten bzw. komponierten Stücke, für den Einsatz der Stimme und für die französisch, englisch und portugiesisch gesungenen Texte. Camille Bertault, Shooting Star in Frankreich, kam über Umwege zum Jazz-Gesang. Sie hatte erst klassisches Klavier gelernt, doch nachdem sie nicht zum Konservatorium zugelassen wurde, ging sie andere Wege.

Ihre Stimme ist phänomenal und sehr wandlungsfähig. Manchmal klingt sie wie Francoise Hardy (Nouvelle York), manchmal wie Patricia Kaas (Comment te dire adieu), oder wie Nina Hagen (Conne). Nur dass ihre Musik wesentlich komplexer ist. Ihr Markenzeichen sind Vokalisen und schnell gesungene Texte.

Von den 16 Stücken hat sie 7 selbst komponiert. Songs von Serge Gainsbourg, Michel Legrand, George Brassens u.a. hat sie neu interpretiert. Besonders spannend ist es da, wo sie aus verschiedenen Genres etwas Neues schafft. Das gilt für die Stücke aus dem Bereich der Klassik von Bach (Goldberg) und Ravel (Arbre Ravéologique), im Jazz sind es Casa de Jade von Wayne Shorter, Very Early von Bill Evans und insbesondere Giant Steps von Coltrane, dessen berühmter Titel dem Album auf französisch den Namen gab.

Camille Bertault singt manchmal ‚normal‘, manchmal in Vocalisen wie bei Bachs Goldberg, wo sie synchron zum Klavier singt. Das soll ihr früher beim Klavierüben geholfen haben. Ein Freund wies mich darauf hin, dass die ‚Swingle Singers‘ in den Sechzigern mehrstimmig ganz ähnlich sangen. Camilles Alleinstellungsmerkmal ist aber die Art, Texte sehr schnell und rhythmisch zu singen wie bei Là oú tu vas. Auch die Band lässt nichts zu wünschen übrig.

Michael Leonhart (Trompete, Flügelhorn) hat die Arrangements geschrieben, spielt im Bläsersatz mit und bringt glänzende Soli ein, auch an der Percussion ist er beteiligt. Dan Tepfer (Klavier) ist oft melodieführend mit der parallel gesungenen Singstimme und zeigt in vielen Solopassagen sein Können.
Jeff Ballard
(Schlagzeug) ist nicht bei allen Stücken dabei, er wirkt sacht mit komplexen Rhythmen im Hintergrund. Christophe Minck spielt double bass, Bassgitarre und Harfe. Er leitet manchmal die Stücke ein, wirkt sonst oft im Hintergrund, kommt aber in den ‚gesangsfreien‘ Passagen mehr nach vorne. Ergänzt wird die Band in manchen Stücken durch weitere Musiker mit Saxofon, Bassklarinette, Flöte, Posaune, Cello und Akkordeon. Zu dieser CD könnte man sehr viel schreiben, ich beschränke mich auf zwei besonders interessante Stücke.

"Arbre Ravéologique"

Es beginnt mit Vogelstimmen, denkt man, aber bei genauerem Hinhören stellt man fest, dass hier wohl die Sängerin diese Töne erzeugt. Dann sind Vocalisen zu hören, die parallel zu einer Passage aus Ravels Le Tombeau de couperin gesungen werden. Die Ähnlichkeiten von impressionistischer Musik und von Jazz werden hier sehr gut genutzt, um etwas Neues zu schaffen; es klingt sehr leicht, harmonisch. Danach sind weitere Passagen aus Klavierzyklen Ravels verarbeitet, z. B. aus den Cinq Pièces Enfantines.
Mitten im Stück werden die Vocalisen vom Gesang abgelöst. Der Text ist ein Gedicht von Camille: Arbre Ravéologique. Im Titel (Wortbildung aus ‚Stammbaum‘ + Ravel) und in den ersten Zeilen wird die persönliche Bedeutung Ravels deutlich:

Sous le pont de mon âme coule sa sève
Tout le long de mon arbre coule Ravel
Avec qui petits doigts ont appris
Le son de la vie
Leçon de vie.

(Unter der Brücke meiner Seele fließt sein Saft – An meinem (Stamm-)Baum entlang fließt Ravel - Mit ihm haben kleine Finger begriffen – den Klang des Lebens – die Lektion des Lebens.)

Dann wieder Vogelstimmen, Debussy’s Claire de Lune klingt an in Melodie und Text. Während das Cello, das eher stört, sich in den Vordergrund drängt, erklingt im Hintergrund der Trommel-Rhythmus aus Ravels Boléro. Und das alles in nur 4 Minuten; im Booklet ist es minutiös dargestellt.

"Là oú tu vas"

Pas de géant tu as fait
Quand tu as compris que tu n’es pas là

Pour être ce que le monde veut. …

(Große Schritte hast du gemacht – als du verstanden hast, dass du nicht dazu da bist – das zu sein, was die Welt von dir erwartet.)

Und genau so war es, als sie 2015 die Prüfung nicht bestanden hatte. In grimmiger Aufbruchstimmung schrieb sie zu Coltrane’s Giant Steps den gut 100 Zeilen langen Text, nahm ihren Gesang auf und stellte alles bei YouTube ein. Es wurde ein Riesenerfolg, ein Giant Step für sie. Dann kam ihre erste CD ‚Ma vie‘.
Auf der zweiten findet man nun die ‚Riesenschritte‘ in neuer Fassung als Là oú tu vas. Sie hatte das Solo selbst transkribiert und singt erst langsam, dann immer schneller bis ins Up Tempo. Sie singt sehr pointiert und Note für Note parallel zum Coltrane-Stück, selbst beim Solo, in gleicher Länge wie beim Original. Das klingt sehr leicht und hört sich gar nicht so schwer an. In Wirklichkeit singt sie aber die berühmten ‚Coltrane Changes‘, die auch für versierte Musiker eine Herausforderung darstellen.

Diese CD ist nichts für Jazz-Puristen. Wie viele moderne Musiker, z. B. Grégory Privat, zu dessen CD SOLEY hier kürzlich eine Rezension erschien, geht Camille Bertault vom Jazz aus und entwickelt ihn über die ursprünglichen Konzepte hinaus weiter. Dies ist ein positiver Effekt der Globalisierung: viele Strömungen bilden eine Art Weltmusik, die nicht – wie manchmal im Pop – zu einem Einheitsbrei verkommt, sondern viele neue Triebe aus der alten Jazzwurzel ans Licht bringt.

Vive le printemps!

Camille Bertault: Pas De Géant
Label: OKeh/ Sony Music
Bestellnummer: 7993562
Erscheinungstermin: 2018

Suche