BRUNO MONSAINGEON
Ich denke in Tönen... Gespräche mit Nadia Boulanger
TEXT: Heinz Schlinkert |
Bruno Monsaingeon | Ich denke in Tönen... Gespräche, mit Nadia Boulanger
Ein Buch über Nadia Boulanger, in dem an keiner Stelle auch mal von Astor Piazzolla die Rede ist, der von der großen Musikpädagogin bekanntlich den entscheidenen Impuls bekam, sich zur eigenen künstlerischen Stimme zu bekennen? Wie kann das denn sein? Unser Autor Heinz Schlinkert hat sich im Detail mit jenem Buch befasst, welches in Frankreich schon lange ein Klassiker ist und nun erstmalig auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Der Eindruck bleibt ein zwiespältiger....
Dieses Buch ist nicht neu, schon vor 42 Jahren wurde es in Frankreich unter dem Titel ‚Mademoiselle: Entretiens avec Nadia Boulanger‘, zwei Jahre nach Boulangers Tod, veröffentlicht. Die Übersetzung ist im Februar dieses Jahres beim Berenberg Verlag erschienen. Warum erst jetzt? Oder warum jetzt noch? könnte man fragen.
Zur Person
Nadia Boulanger war Französin und lebte von 1887 bis 1979, während des 2. Weltkriegs in den USA. 1946 wieder in Paris übernahm sie die Leitung des Conservatoire Américaine de Fontainebleau, das die US-Armee am Ende des 1. Weltkriegs gegründet hatte. Seitdem hat sie als Komponistin, Pianistin, Dirigentin, Musiktheoretikerin und -pädagogin Kultstatus erworben. Igor Strawinsky war ihr Lieblingsschüler und Freund, doch in ihrer - ‚Boulangerie' genannten - Wohnung unterrichtete sie weitere spätere Berühmtheiten wie Aaron Copland, Quincy Jones, Leonard Bernstein, Philip Glass und Yehudi Menuhin. Um mit den Namen aller genannten Musiker etwas anfangen zu können, müsste man allerdings mindestens ein klassisches Musikstudium absolviert haben.
Das Buch
Das Buch ist sorgsam editiert, es macht einen ‚seriösen‘ Eindruck und passt in diesem Sinne gut zur Hauptperson. Obwohl der Text auf den ersten Blick ein langes Interview zu sein scheint, so bildet er doch eine Art Puzzle. Bruno Monsaingeon hat Passagen ausgewählt aus verschiedenen Interviews und aus Vorlagen für einen Film und für eine Serie von Rundfunkgesprächen und hat diese nach thematischen Gesichtspunkten zusammengestellt. So sind manche Kapitel nur in der 1. Person Singular geschrieben, manche in reiner Interview-Form oder gemischt. Quellen werden gar nicht genannt. Einige Fotos, auch von anderen Musikern, sind hilfreich, um sich einen persönlichen Eindruck von Nadia Boulanger machen zu können. Am Ende berichten im Kapitel ‚Zeugnisse‘ berühmte Musiker von persönlichen Erfahrungen und Eindrücken mit und von Nadia Boulanger.
Kritik
Die Presse-Reaktionen auf das Buch sind nicht durchweg positiv, eher skeptisch. Man muss dabei allerdings die Leistung des Autors und die Ansichten der Musikerin unterscheiden; meistens geht es um letztere.
Vom Buch-Autor Bruno Monsaingeon wird gesagt, er durfte „fünf Jahre lang ... immer mal wieder im Salon Boulanger am Katzentisch Platz nehmen und der Meisterin seine Fragen zuspielen. Die nahm den Ball stets gerne auf und entschwebte umgehend in höhere Sphären."
Und „Wer sich gern in alten Zeiten verliert, findet hier sicher Vergnügen dran." (br s.u.) -
„Eine tiefere Analyse, warum sie ihren Salon zum Mekka der Komponisten machen konnte, suche man vergebens."; „Heute klingen die Ein- und Ansichten der Madame zur Musik allerdings etwas aus der Zeit gefallen." (swr s.u.)
Das war schon eine ganz andere Welt, in der Boulanger lebte, und dazu in der Wohnung ihrer Mutter, von der sie oft sprach und in deren Wohnung sie bis zu ihrem Tod lebte. Doch sie war auch international aufgestellt, oft auf Konzertreisen, vor allem in den USA. So durchziehen oft Widersprüche ihre Äußerungen. Es bleibt unklar, warum sie schon früh das Komponieren aufgab, aber Komposition unterrichtete und Igor Markévitch vorwarf, das Komponieren aufgegeben zu haben.
Erstaunlich ist, dass die Zeitgeschichte kaum eine Rolle spielt. Bei ihrer Arbeit am Konservatorium in Fontainebleau kommt der Weltkrieg ins Spiel, aber sonst scheint sie 93 Jahre lang vor allem in ihrer Musikwelt gelebt zu haben. Sie bestätigt auch im Interview, dass sie sich in ein „Kloster der Musik" zurückgezogen habe (S.143 ). Äußere Einflüsse auf die Musikgeschichte scheinen nicht relevant zu sein, vielleicht auch weil sie einen recht krassen Geniebegriff vertritt. Entweder man ist ein Genie, oder nicht; die gesellschaftspolitischen Umstände spielen da kaum eine Rolle. Die Produktion von Musik ist ihr Thema, die Rezeption scheint sie nicht zu interessieren,
Fazit
Hat das Buch dann nur historischen Wert? Nein, denn immer wieder trifft man auf Passagen, die modern sind, auch wenn sie wegen der antiquierten Diktion nicht so klingen.
„Alles, was ein Lehrer tun kann, ist es, beim Schüler jene Fähigkeiten zu entwickeln, die ihm erlauben, sein Werkzeug zu handhaben. Was er dann mit dem Werkzeug anstellt, darauf hat der Lehrer keinen Einfluss." (S.72)
„Das große Privileg der Lehre besteht darin, den Lernenden dazu zu bringen, dass er wirklich darauf achtet, was er denkt, dass er wirklich sagt, was er will, und dass er genau dem lauscht, was er hört." (S.28 )
„Das Wesentliche bei begabten Kindern ist es, dass man sich anhalten muss, sie dazu zu bringen, dass sie ganz sie selber sind, dass man sie ... nicht abblockt." (S.79)
Dieser Respekt vor dem Schüler und die Bescheidenheit in der Einschätzung der eigenen Rolle als Begleiterin sind beachtlich, vor allem für diese Zeit, in der ‚Trichterpädagogik‘ und Indoktrination gang und gäbe waren. Doch gilt das nur für Schüler mit potentiellem Geniestatus? Beim Erlernen des ‚Handwerks‘ ließ Boulanger auch mal einen Schüler siebenmal die Komposition neu schreiben. Wie mag ihr Unterrichtsstil ausgesehen haben?
JAZZ
Jazz? Dieses Wort kommt in dem Buch nicht vor, obwohl Nadia Boulanger auch in den USA gelebt hat und z. B. Josephine Baker auch in Paris lebte.
Was nicht im Buch steht: Auch Astor Piazzolla war einer ihrer Schüler, der über sie sagte: „Es war, als würde ich bei Mama studieren." Er hatte aus Argentinien eine Reihe eigener Kompositionen mitgebracht, zu denen Nadia Boulanger sagte, sie könne den Geist darin nicht finden. Als er zufällig einen Tango spielte, meinte sie: "Das ist der wahre Piazzolla. Geben Sie es nie auf."
Warum das Buch erst jetzt erschienen ist, bleibt unklar. Dass das Buch nach so langer Zeit noch veröffentlicht wird, macht Sinn, weil Nadia Boulanger eine wichtige Person der Musikgeschichte ist, die - trotz teils antiquierter Haltungen - schon früh moderne Vorstellungen antizipiert hat.
Bruno Monsaingeon - Ich denke in Tönen Gespräche, mit Nadia Boulanger
Verlag: Berenberg
ISBN: 978-3-949203-50-3
Erscheinungsdatum: 27.02.2023
In Berlin hat sich das nach den beiden Boulanger-Schwestern benannte Boulanger Trio gebildet. Mit Teach me! The students of Nadia Boulanger hat es seine erste CD veröffentlicht, auf der Musik berühmter Schüler von Nadia Boulanger zu hören ist.
links:
https://berenberg-verlag.de/programm/ich-denke-in-toenen/
https://www.boulangertrio.com/2020/03/05/cd-teach-me/