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Avishai Cohen

Naked Truth

Mülheim a.d.R., 17.05.2022
TEXT: Peter E. Rytz | 

Wenn von nackten Tatsachen gesprochen wird, was ist damit eigentlich gemeint? Häufig nicht mehr oder weniger als beliebige Small-Talk-Rhetorik des Alltags. Naked Truth, nackte Wahrheiten haben, ernsthaft betrachtet, ein anderes Gewicht.

Avishai Cohen (tp), Yonathan Avishai (p), Barak Mori (b) und Ziv Ravitz (dr) sondieren auf der bei ECM veröffentlichten CD Naked Truth ontologisch bestimmte Tatsachen facettenreich in einer achtteiligen Suite. Ihr Weg führt sie, inspiriert von Departure, einem Gedicht von Zelda Schneurson Mishkovsky (1914 – 1984), konsequent zu ehernen Tatsachen jedes Lebens: And before the end, to live with the fair of the death and the certainty of my own.

Cohen liest schlussendlich, begleitet von Avishais Piano, das Gedicht. Er unterstreicht bis zu eben jener Schlusszeile mit geborgten Worten, wohin es sie als Quartett musikalisch geführt hat - originär dem verletzlich Schönen im status nascendi einer Selbstbesinnung Ausdruck zu geben. Aufgenommen in den Studios La Buissone in Pernes-les-Fontaines, dem magisch kreativen Produktionsort vieler ECM-CDs, gemeinsam sich allein der Unmittelbarkeit des Augenblicks verpflichtend.

Auf das Wesentlich reduziert, deklinieren sie, basierend auf einem Cohen-Motiv aus acht Noten in Part II, existentielle Basics des Lebens. Höhen und Tiefen zwischen Liebe und Hass, Freude und Niedergeschlagenheit durchtönen sie mit sensibler, empathischer Aufmerksamkeit.

Tradierte Erfahrungen loslassen...

Cohens Trompetenklang weht melancholisch, als wäre er in galaktischen Fernen gefangen, um im nächsten Moment laut wie ein strahlender Sonnenaufgang aufzuscheinen. Das Piano sinniert mit Avishai in melodisch verwobenen Bögen. Gemeinsam mit Moris Basssignaturen erkunden sie Sound-Möglichkeitsräume. Das Drumming von Ravitz nimmt sich weitestgehend zurück, fokussiert die Human beings der Naked-Truth-Expedition mit narrativer Eindringlichkeit.

Form Departure to Naked Truth: Eine Suite, die buddhistisch meditierend zentriert und doch ganz im Hier und Jetzt westlicher Kontemplationserfahrungen geerdet ist. Cohens Antwort auf die Herausforderungen der Pandemie zielt auf ein Innehalten in Zeiten merkwürdiger Betriebsamkeiten. Wie ist der Maskerade-Bannkreis menschlich und musikalisch zu durchbrechen?

Cohen & Co variieren Stimmungen und Atmosphären von Gefühls- und Seelenwelten. Intuitiv und improvisierend finden sie lyrisch poetische Sound-Metapher. Ihr Credo: Loslassen tradierter Erfahrungen, neue Risiken mit fragmentarisch skizzierten Kompositionen von Cohen wagen. In ihnen ist die Essenz musikalischer und subjektiver Erfahrungen sublimiert, von Cohen selbst wie gleichermaßen von denen seiner Musiker.

Wer nach Wegen sucht, den bleiernen Pandemie-Staub aus den Klamotten zu schütteln, dem sei diese CD ganz besonders empfohlen.


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