Bild für Beitrag: 'Arrows Into Infinity’ | Überragende Dokumentation über Charles Lloyd
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'Arrows Into Infinity’

Überragende Dokumentation über Charles Lloyd

Bochum, 16.09.2014
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | FOTO: Bernd Zimmermann

Über einen Film zu schreiben, der einen Musiker porträtiert, fällt nicht leicht, wenn man durch das filmische Opus jegliche kritische Distanz zu seinem Gegenstand und der ästhetischen Präsentation desselben verliert. Bei der bei ECM im Juli herausgegebenen DVD/Blu-Ray Arrows Into Infinity – im letzten Jahr von Dorothy Darr und Jeffery Morse als Film veröffentlicht – geht dies dem Rezensenten so. Das hat viele Gründe. Einer liegt darin, dass sich die Filmdokumentation über Charles Lloyd mit einem der interessantesten und faszinierendsten Musikerpersönlichkeiten beschäftigt, dessen in jeder Hinsicht grenzüberschreitenden Ansatz es verbietet, ihn nur dem Jazz zuzuschreiben. Die dokumentarische Biographie bedient sich eines weiten narrativen Bogens, sie erzählt vom „klassischen“ geradezu kometenhaften Aufstieg des Saxophonisten und Multiinstrumentalisten vom Blues- und R&B-Musiker über eine Reihe von Stationen im Jazz in unterschiedlichen Ausprägungen bis zu dem, was man als Gipfel des Erfolgs, als Höhepunkt der Anerkennung auch im Lager der Flower Power- und Pop-Kultur ansehen kann. In einer Einstellung sieht man in der Außenwerbung des legendären Fillmore Auditoriums Charles Lloyd in überraschender Nachbarschaft zu Jimi Hendrix und Janis Joplin. Verwundert nimmt man ebenso eine Zusammenarbeit mit den Beach Boys oder The Greatful Dead zur Kenntnis.Der Millionen-Seller Forest Flower von 1966 oder das ebenso ikonische Album Dream Weaver markieren den besagten Peak, dem eine – wie der Film anschaulich dokumentiert – tiefe Sinnkrise folgt. Charles Lloyd fühlt sich dem Business ausgeliefert und, wie er im Interview sagt: damit der Erwartung, eine langweilige Nacherzählung der Wahrheit abzuliefern. Probleme mit Drogen, mit der Plattenfirma, mit seinen langjährigen Mitspielern (Jack DeJohnette nennt dies so treffend als Verlust seines Fokus’), Auflösung des Erfolgsquartetts mit Jack DeJohnette, Keith Jarrett und Ron McClure, die Trennung von seiner Frau sind die Folge. 1970 zieht sich Charles Lloyd vollständig aus dem Musik-Trubel zurück und findet in den Bergen von Big Sur an der amerikanischen Westküste allmählich durch intensives spirituelles Suchen allmählich zu sich zurück – übrigens gemeinsam mit der Künstlerin und Filmemacherin Dorothy Darr, der wir Arrows Into Infinity zu verdanken haben. Der Jazzszene bleibt Lloyd fern, Schriftsteller begleitet er sporadisch im universitären Kontext. Eine im Film nur kurz angesprochene Nahtoderfahrung, v.a. aber der Kontakt zu Michel Petrucciani führen dazu, das wieder geschenkte Leben aufzunehmen und sich sozusagen lediglich als Medium für Musik und damit frei von subjektiver Künstlereitelkeit zu begreifen. Lloyd beginnt 1989 eine intensive und äußerst produktive Zusammenarbeit mit ECM – mit herausragenden Produktionen und CD-Einspielungen mit ebensolchen Musikern wie Billy Higgins oder seinem New Quartet mit Jason Moran, Reuben Rogers und Eric Harland.

Die andere im wahrsten Sinne überwältigende Qualität des Films liegt auf der formal-ästhetischen Ebene: Der genannte Lebensbogen von Charles Lloyd wird mit einer unglaublichen und unglaublich stimmigen Dichte an visuellem Archiv- und Neu-Material erzählt – bestehend aus Filmdokumenten und Fotos, aus raffinierten Überblendungen, aus stimmungsvollen, mal erklärenden, mal belegenden, mal emotional wirkenden Bildern. Die Montage von Interviewszenen, historischen Originalbildern, von aktuellem Material, von Musik im Off und vor allem von Konzertausschnitten ergeben ein äußerst dichtes Mosaikbild von einem Ausnahmemusiker. Das Verdienst des Films besteht darin, die gezeigten Konzerte nicht kurz anzuspielen, der Erzählfluss des Films lässt genug Raum, die zahlreichen Konzertausschnitte in Ruhe zu rezipieren, sie in den Zusammenhang der Interviewaussagen einzuordnen und v.a. sie genießen zu können. Die Schönheit von Charles Lloyds Spiel überwältigt einen. Seine ästhetischen Wurzeln werden verbal und im Musizieren deutlich: der Blues von Howlin’ Wolf, der Drive von Chico Hamilton und Julian „Cannonball“ Adderley, der warme Sound von Lester Young, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit vorhandene starke Affinität und Empathie zu Ornette Coleman, zu Michel Petrucciani, zu seinen früheren Quartett-Mitgliedern Herbie Hancock und vielleicht noch stärker zu Jack DeJohnette, überhaupt zu weiteren unterschiedlichen Drummern wie Zakir Hussain oder Billy Higgins, und natürlich in musikalischer und spiritueller Hinsicht zu John Coltrane. Sein offenes und die Mitmusiker überaus inspirierendes, animierendes und forderndes Konzertieren wird von den verschiedenen Interviewpartnern behauptet, in den erfreulich relativ langen Konzertausschnitten bekommt man einen unmittelbaren sinnlichen Eindruck von der Musik Lloyds. In diesem Sinne hat der Film auch die Qualität eines Musikfilms mit außerfilmischer Wirkung: Das (Wieder-)Hören der Platten und CDs von Charles Lloyd dürfte durch die vielen ästhetisch – meist im Jazz-affinen Schwarz-Weiß gehaltenen - ansprechenden Filmbilder und die in den filmischen Fluss eingearbeiteten Fotos einen vertiefenden Genuss erfahren.

Alle Musiker, alle Interviewpartner, alle behandelten Themen, alle musikalischen, politischen und kulturellen Bezüge des Films hier zu nennen, sprengte den Rahmen der vorliegenden Rezension. Sie sind zahlreich, vielschichtig und spannend. Man kann nur empfehlen, sich auf den Film einzulassen, auf diese jazz- und allgemein: musikhistorische Reise, auf die Biographie eines Ausnahmemusikers mit seiner unbändigen spirituellen Kraft, auf seine Reise „in den Heiligen Gral der Musik“, auf seine „Pfeile in die Unendlichkeit“, seine „music supreme“ und die diese herausbringende Musikerpersönlichkeit.

ECM 5052

DVD 6025 378 0649 (2)

Blu-ray 6025 378 0650 (8)

Übrigens ein Hörtipp: Karl Lippegaus’ Charles Lloyd-Special zur DVD am Mittwoch, 17.9.2014, 21.05h WDR 4

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