Anke Steinbeck Auf der Suche nach dem Ungehörten
Improvisation und Interpretation
TEXT: Heinz Schlinkert | FOTO: Verlag Dohr
„Ja, ich glaube, dass Beethoven eher ein Jazzer war.“ Dieser Satz der Neurowissenschaftlerin Daniela Sammer steht in vielerlei Hinsicht für die Thematik dieses Buches. Es geht um die Beziehung zwischen klassischer Musik und Jazz, um die Problematik dieser Begriffe und um neue Entwicklungen in der aktuellen Musikbranche.
Allerdings könnte das Buch den Leser nach der ersten Lektüre vielleicht etwas ratlos zurücklassen. Interviews mit 12 Musikern (S. Sternal , A.-S. Mutter, A. Niescier, F. Ambrosetti, Sebastian Studnitzky u.a.), einer Neurowissenschaftlerin und einem Politiker und Essays von drei Musik-Wissenschaftlern (J. Caskel,D.M. Feige, A. Steinbeck) liefern zwar jede Menge Infos über persönliche Erlebnisse und Ansichten. Es fehlt aber ein erkennbarer roter Faden, an dem man sich orientieren und der am Ende zu einem klaren Ergebnis führen könnte. Zudem fragt die Herausgeberin Anke Steinbeck bei jedem Interview zuerst nur „Was ist Jazz für dich?“ und setzt dann das Interview sehr empathisch, aber auch unstrukturiert fort. Sie versucht am Ende zwar ‚den Sack zuzubinden‘, was ihr aber angesichts der sehr unterschiedlichen Interviews schwer fällt.
Anke Steinbeck hat alle Interviews selbst geführt und einen der Essays geschrieben. Sie kommt aus der Klassik und ist u.a. im Orchestermanagement tätig. Seit 2014 ist sie Projektleiterin beim Jazzfest Bonn. Auch Band I der Reihe 'Improvisation und Interpretation in der musikalischen Praxis der Gegenwart' stammt aus ihrer Feder: ‚Fantasieren nach Beethoven - Praxis und Geschichte kreativer Musik‘.
- KLASSIK und JAZZ - Interpretation und Improvisation
Ausgangspunkt des Buchs ist die Unterscheidung von Klassik und Jazz im Sinne zweier getrennter musikalischer Welten. Klassik gilt nach traditionellem Verständnis als ‚seriöse‘ Musik, alles ist durchkomponiert, die Spielstätten sind staatlich gefördert, die Musiker sind gut ausgebildet und müssen möglichst ‚werktreu‘ spielen. Spielräume gibt es nur im Rahmen der Interpretation, und auch da hauptsächlich für den Dirigenten.
Jazz dagegen wird oft als das genaue Gegenteil aufgefasst. Er ist anarchistisch, es gibt kaum Vorgaben, Individualität und Kreativität sind gefragt, Leadsheets sind nur Rahmenvorgaben, im Vordergrund steht die Improvisation.
Mit dieser Einteilung ist auch eine unterschiedliche gesellschaftliche Wertschätzung verbunden. Das zeigt sich schon allein an den Gagen, aber auch an den Orten, an denen die Musik jeweils zelebriert wird. Denn klassische Musik findet in öffentlich geförderten Orchestern und Räumen statt, die Musiker erhalten oft Gagen, von denen die Jazz-Musiker nur träumen können.
Die meisten Autoren sind sich einig, dass die Begriffe Klassik und Jazz „immer mehr zu vagen Worthülsen verkommen (und) dem Selbstverständnis der Künstler/innen jedoch nicht gerecht werden.“ (S.15) Anke Steinbeck spricht von einem „.. blindlings übernommenen Ausschließlichkeitsanspruch, .. dessen metaphysischer Nimbus eine Hierarchie des musikalischen Geschmacks beinhaltet und zaghafte Interdependenzen verpönt“ (S.179)
Das Schubladendenken wird auch historisch ‚rückwärts‘ kritisiert. So schreibt z. B. Rudolf Buchbinder von den „drei armen Teufeln Haydn, Mozart und Beethoven“, die man 100 Jahre später in die Schublade der ‚Wiener Klassik‘ subsumiert habe. Gerade Mozart und Beethoven hätten sehr viel improvisiert, was im heutigen Musikbetrieb gar nicht mehr zur Geltung komme. (S. 9)
- Improvisation als zentrale Kategorie in den Interviews
Andreas Schärer beschreibt gleich zu Beginn metaphorisch, was er unter Improvisation versteht:
„Stell Dir vor, ein Konzert wäre ein Schiff. Am Beginn des Abends steht man vor dem Dingund schubst es ins Wasser. … Vielleicht bringt einen ein unvorhergesehener Sturm vom Kurs ab und man landet ... auf einer bisher unentdeckten Insel. .. Man muss es quasi genießen, dass sich die finale Destination erst während der Fahrt herauskristallisiert.“ (S.20)
Das Problem ist nur, dass fast jeder Autor unter Improvisation etwas anderes versteht. Wie bringt man das zusammen? Zudem bringen einige Interviews nicht viel für die Fragestellung, eigene persönliche Erfahrungen wie bei Anne-Sophie Mutter sind zwar ganz interessant - z. B. was die ‚Intimität des Raumes‘ angeht - helfen aber insgesamt nicht weiter. Die theoretischen Beiträge sind auf hohem Niveau, stellen aber, abgesehen von der Herausgeberin, kaum Bezüge zu anderen Beiträgen her.
Ergänzt wird das Buch im ‚Epilog‘ durch ein Gespräch mit der Kognitions- und Neurowissenschaftlerin Daniela Sammler `Warum die Gehirne von Jazz- und Klassik-Pianisten unterschiedlich ticken`. In einer Forschungsreihe hatte sich ergeben, dass die Gehirne der beiden Pianisten-Gruppen Unterschiede bei der Umsetzung von Harmonien und Fingersätzen aufweisen, wenn sie beim Spiel auf unerwartete Vorgaben stoßen. Am Ende kommt der ehemalige Bundestagspräsident und Hobby-Musiker Norbert Lammert zu Wort, der sich über die Bedeutung der Improvisation, auch in der Politik, auslässt.
- Aktuelle Situation der Musikbranche
In der aktuellen Musik spielen die von Anke Steinbeck oben genannten Interdependenzen zwischen den Musik-Bereichen eine wichtige Rolle. Fusion und Crossover gab es schon innerhalb des Jazz. Die modernen Musiker jedoch suchen neue Wege in der Verbindung von Klassik und Jazz und auch darüber hinaus. Konkrete Ansätze dazu werden in den Interviews deutlich: Stegreiforchester wie das von Marco de Marco und Laura Totenhagen, das Norwegian Wind Orchestra mit Michael Wollny, das #PianoPulseProject von Frank Dupree u.a.
Diese neue Musik – sagt die Herausgeberin – entspricht der Umbruchssituation unserer Zeit, in der wir uns ständig mit neuen Herausforderungen auseinandersetzen müssen. Diese Musik habe „die Suche nach dem Neuen und die Inspiration aus dem Moment als konvenables Handlungskonzept aus ihrem Dämmerzustand erweckt“. Sie begreift ‚Das Unperfekte als Chance‘.
Doch gerade darauf sei der aktuelle Konzertbetrieb nicht vorbereitet, sie spricht von einem „kreativen Innovationsstau“. Und darauf, denke ich, läuft es in dem Buch hinaus. Alles ist offen, viele Wege werden beschritten, nur so wie bisher soll es nicht weitergehen. Darum ist es notwendig „die Musikrezeption von der Vormachtstellung ihres historischen Überbaus zu befreien.“ (S.193)
- nrwjazz.net
Was bedeutet das für nrwjazz.net, das ja den Jazz im Namen trägt? Wenn man sich die Beiträge der letzten Jahre ansieht, wird deutlich, dass die ‚Jazzpolizei‘ hier kein Standbein hat. Wir berichten auch über Konzerte, Musiker und Alben, die über den traditionellen Jazz hinausgehen und geben damit – ganz im Sinne von Anke Steinbeck – den Musikern „Entfaltungs- und Darstellungsmöglichkeiten .. für ihre mutige Forschungsarbeit zwischen Tradition und Moderne“. (S.193)
Insgesamt ein sehr interessantes, zukunftsweisendes Buch, das im Zeitalter der ‚Neuen Unübersichtlichkeit’ Orientierungshilfen zu geben versucht.
Beethoven ein Jazzer? Ja, denn „Komponisten ticken wie Jazzmusiker, wenn sie in den Harmonien springen und ihr Bewusstsein nutzen, was musikalisch geht oder nicht.“ (Sammler S.203).
Anke Steinbeck (Hg) Auf der Suche nach dem Ungehörten
Improvisation und Interpretation in der musikalischen Praxis der Gegenwart
(Improvisation im heutigen Musikbetrieb, Bd. 2)
216 S., Hardcover, großzügig gestaltet, auffällig sind die Hervorhebungen in fetter Schrift, die Orientierung geben, aber auch ungewollt beeinflussen können.
ISBN 978-3-86846-142-8
EURO 24,80
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