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Ästhetik des Jazz

Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft

Bochum, 30.11.2014
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker | 

Was ist nicht alles über Jazz geschrieben worden? – Eigentlich nicht so viel, wenn man sich die Publikationen in den letzten Jahren im Bereich von Musikwissenschaft, -ethnologie oder -soziologie vergegenwärtigt. Natürlich sind immer wieder Reflexionen über Grundsätzliches beim Jazz im journalistischen Kontext vernehmbar. Aber eine theoretische Auseinandersetzung darüber, was Jazz sei oder sein sollte, was nicht, was man als Jazz bezeichnen könne und was nicht, was das spezifisch Ästhetische des Jazz ist, findet nur rudimentär statt, im feuilletonistischen Zusammenhang naturgemäß eher in Teilaspekten und mit subjektiven Setzungen. Ein philosophischer Ansatz über die genannten Grundsatzfragen ist eher zu vermissen.

Wir wollen in loser Folge auf das ein oder andere, was über Jazz mit anderem – vielleicht eher systematischen – Anspruch geschrieben wird, hinweisen.

Den Auftakt macht eine Rezension über philosophische Zugänge zum Jazz in der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft mit ihrem Schwerpunktthema Ästhetik des Jazz. Im Band 59 dieser Zeitschrift – erschienen in diesem Jahr – nehmen sich sieben Autoren aus verschiedenen Perspektiven des Themas an. Grundlage der Beiträge ist eine Tagung, die im November 2012 an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ stattfand.

Beleuchtet werden verschiedene Facetten einer Ästhetik des Jazz, den Autoren geht es dabei weniger um Versuche einer Definition des Gegenstandes als vielmehr darum, stilistisch-ästhetische Merkmale herauszuarbeiten. Die Reihe beginnt nicht von ungefähr mit einer Auseinandersetzung mit Theodor W. Adorno, Georg W. Bertram weist nach, dass dessen Kritik auf einen einseitig avantgardistischen Kunstbegriff basiere. Adornos Kritik, Jazz sei stereotyp, rhythmisch monoton, Jazz reproduziere lediglich kulturelle Muster und musikalische Pattern und sei damit keine befreiende Kunstform, widerlegt Bertram, indem er die Interaktion zwischen den Musikern und zwischen Musiker und Publikum als konstituierendes Element von Jazz ausmacht. Gerade in der musikalischen Praxis im Spannungsfeld von Jazzperformance und interaktiver Auseinandersetzung mit dem Publikum liege in Negation von Adorno der befreiende Charakter von Jazz. Unabhängig davon, dass Adorno nur frühe Formen des Jazz wie Swing und Dixieland im Blick gehabt habe und damit aktuell wohl kaum in seiner Jazzkritik wichtig zu nehmen ist, verkennt er in seiner abwertenden Haltung das Wesen des Jazz als interaktive und damit auch „befreiende“ Kunstform. Bertram spricht von einem „Aushandlungsgeschehen“ in der performativen Praxis des improvisierenden Musizierens, bei der eben nicht Pattern und Stereotypen aneinandergereiht werden, sondern bei der interaktiv in ständiger Veränderung die Rezeption der Mitmusiker und des Publikums dynamisch in den künstlerischen Entstehungsprozess einbezogen wird.

Auch andere Autoren des Bandes wie Daniel Martin Feige und David P. Schweikard unterstreichen die Bedeutung der Interaktion für die spezifische Jazz-Ästhetik. Bei Feige wird diese erweitert um ‚Improvisation’ und ‚Intensität’. Erstere ist auch ein Bestandteil der Kunstmusik, v.a. derjenigen vor dem 18. Jahrhundert und auch der Neuen Musik, aber der Werkcharakter der Kunstmusik – wie auch andere Autoren des Bandes ausführen – manifestiert sich im fertigen Kunst-Produkt, in der Komposition, während den Jazz das Prozesshafte im Zuge der Improvisation kennzeichnet. „Charakteristisch für den Jazz ist so etwas wie die Form der musikalischen Praxis, die sich tendenziell von der Form musikalischer Praxis der Tradition europäischer Kunstmusik darin unterscheidet, dass das, was in dieser Tradition implizit bleibt, im Jazz explizit ist“ – ein Grundgedanke Feiges, den er in seinem Suhrkamp-Bändchen Philosophie des Jazz näher ausführt (Gegenstand meiner nächsten Rezension). Mit ‚Intensität’ umschreibt Feige den Swing und Groove, die Rhythmik als afrikanisches Erbe – neben der europäischen Harmonik – als typisch für Jazz-Ästhetik. Er setzt sich ebenfalls mit dem von Ted Gioia stammenden Ansatz der „Unvollkommenheitsästhetik“ auseinander, nach der Jazzimprovisation gegenüber der auskomponierten Musik bewusst „unvollkommen“, unfertig, vorläufig sei.

Der Aspekt der Unvollkommenheitsästhetik wird am intensivsten und überzeugendsten von Alessandro Bertinetto aufgegriffen und – wie schon der Titel seines Aufsatzes „Jazz als gelungene Performance“ vorwegnimmt – in seinem Beitrag argumentativ klug aufgefächert. Bertinetto weist nach, dass der Ansatz einer Jazzästhetik als eine Ästhetik der Imperfektion von mehreren falschen Grundannahmen ausginge. Das Jazzspezifische bestünde demnach gerade darin, im performativen Akt den Kern des Überlieferten, der Traditionen etwa durch Performer, ästhetische Stile, Referenz-Aufnahmen oder Standards in der Performance aufzunehmen und diese Traditionen dynamisch zu bestätigen und/oder zu verändern. Jazz bedeutet eine Stegreif-Erfindung im Prozess, die oft minutiös vorbereitet sei, die hohe individuelle und gruppenbezogene künstlerische Fähigkeiten voraussetze. Die improvisierende Interaktion ist dabei nicht voraussetzungslos, sondern vielmehr verankert „...in den Schienen einerseits des Swings und des Grooves und/oder andererseits der Akkordfolge, welche (wenigstens teilweise) eine beständige Regelmäßigkeit herstellen, die für den Flusscharakter des Prozesses des Musikmachens verantwortlich ist.“ Für den Jazz ist die Imperfektionsthese kaum geeignet, weil sie der möglichen „Perfektion des Augenblicks“ hinsichtlich seiner Expressivität, seiner intensiven Performance nicht gerecht werden kann, weil sie als Distinktionsmerkmal gegenüber anderen musikalischen Kunstformen nicht taugt. Interessant an Bertinettos Beitrag ist seine Auseinandersetzung mit dem, was man im Rahmen der Imperfektionsästhetik als „Fehler“ bezeichnet, indem man das „Imperfekte“ als konstitutiv für den Jazz ansieht. Bertinetto meint damit nicht handwerklich-technische Fehler, wenn etwa gegen strukturelle Voraussetzungen wie Akkordfolge, Tempo, Rhythmus verstoßen wird. Ihn interessieren vielmehr die ästhetischen Fehler, die bewussten Verstöße gegen Erwartungen und Konventionen, die im Jazz zu positiven Impulsen für den kreativen Prozess werden. Gerade gegen die normativen Voraussetzungen und Erwartungen zu spielen, macht Jazz und allgemein: Kunst aus. „Nicht nur sind absichtliche Fehler wie die wrong notes oder Monks verrückter laidback-Rhythmus keine Fehler: Sie sind einfach Züge, die die Veränderung der Normativität verursachen und zeigen, dass die Aufführung bzw. das Kunstwerk auf Basis einer anderen ästhetischen Normativität betrachtet und evaluiert werden soll.“ Oder: „Ein kreativer „Fehler“ ist gar kein Fehler, sondern ein Impuls für eine unvorhersehbare Änderung der ästhetischen Normativität im Verlauf der Performance.“ Im Jazz gelingt in besonderer Weise eine gewisse Dialektik zwischen dem Aufgreifen einer bestimmten Norm, einer gewissen Kontinuität dieser Norm und gleichzeitig der Möglichkeit, in der Performance diese normative Gewohnheit zu durchbrechen, zu ändern und damit auch potenziell die Norm zu verändern. Die Ästhetik des Jazz ist kaum mit vorgefertigten Kategorien des Perfekten zu verstehen, sondern eher – so Alessandro Bertinetto – als „Perfektion als Gelingen“, wie sie sich in der ästhetischen Erfahrung von Jazz in der Überraschung, in der Originalität in der Performance zeigt.

Die sieben Aufsätze des Zeitschriften-Bandes enthalten neben den genannten jeweiligen spezifischen Zugangsweisen zum Gegenstand Jazz eine Reihe von definitorischen Spezifika, die den Jazz, seine Ästhetik ausmachen. Am schwächsten dürfte der Beitrag von Jerrold Levinson sein. Levinson gehört zu den bekanntesten amerikanischen Kunstphilosophen. Hier untersucht er „die expressive Besonderheit des Jazz“ und versucht diese als Merkmal einer distinktiven Ästhetik auszuweisen. Seine Zuordnung von spezifischen Merkmalen des Jazz zu emotionalen Reaktionen wie Traurigkeit, Sorge, Melancholie, seine Zuordnung von emotionalen Werten zur Musik oder deren Negation sind dabei mehr als fragwürdig und spekulativ und leicht durch Gegenbeispiele zu widerlegen. Seine Aussage, „Gram, schweres Leid oder Zorn“ z.B. lägen außerhalb der Reichweite von Jazz, dürfte man sowohl empirisch als auch theoretisch schlicht als Unsinn abtun.

Als besonders lesenswert sind die Beiträge vor allem dann anzusehen, wenn sie ihre Thesen und Argumente mit Musiker-Zitaten garnieren. Die zahlreichen Zitate in dem Band sind eine wahre Fundgrube, sie belegen den Eindruck, dass eine noch so elaborierte philosophische Reflexion nicht so ganz an die eigentlich prägnante Reflexion der Praktiker über ihr eigenes Tun heranreicht.

Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Band 59. Heft 1

Schwerpunktthema: Ästhetik des Jazz

Herausgegeben von Josef Früchtl und Maria Moog-Grünewald.

ZÄK 2014. 168 Seiten.

978-3-7873-2712-6. Kartoniert 68.00

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