A Multitude Of Angels
Atemberaubende Großform der Solo-Improvisation von Keith Jarrett
TEXT: Heinrich Brinkmöller-Becker |
Es müssen schon mehrere Engel zusammenkommen, um ein solches Projekt gelingen zu lassen. Wir sind zwar noch nah bei weihnachtlichem Flair, aber der ansonsten eher wortkarge Pianist spricht in den Liner Notes in der Tat von mehreren Engeln, die ihm zu diesem „major event“ verholfen haben: „Everyone around me; the audiences, the pianos, the sickness (angel of death?), the Sonosax DAT-Recorder (...), my manager and my wife ....“. Die Rede ist von der gerade erschienenen 4-CD-Box „A Multitude Of Angels“ mit vier Solokonzerten von Keith Jarrett im Oktober 1996 in Italien, betitelt schlicht nach den jeweiligen Aufführungsorten Modena, Ferrara, Torino und Genova. Wenn der Großmeister der Großform der Solo-Improvisation solche Idealbedingungen für seine Konzerte nennt und sich nach 20 Jahren zu einer Veröffentlichung der Aufnahmen entschließt, an denen er als Musiker, Toningenieur und Produzent beteiligt war, lässt dies aufhorchen. Über die Solo-Konzerte von Keith Jarrett ist zwar sicherlich alles gesagt und geschrieben, alles Negative wie Positive: seit seinen Solo Concerts Bremen/Lausanne (1973), dem legendären The Köln Concert mit fast 4 Millionen Verkäufen das erfolgreichste und populärste, nicht unbedingt das beste Beispiel seiner solistischen Selbstentäußerung und den vielen Beispielen danach. Dem ist auch bei der neusten Veröffentlichung von den Konzerten in Italien nichts hinzuzufügen. Aber die vier markieren in mehrerer Hinsicht etwas ganz Besonderes: in biographischer, musikalischer und technischer Hinsicht. Sie bilden den Abschluss, nach Jarretts eigener Einschätzung den Höhepunkt der Phase der Marathon-Improvisationen, die durch die krankheitsbedingte Zäsur in Jarretts Leben beendet wurde, durch die der Pianist zwei Jahre von jeglichem Musizieren abgehalten wurde. Danach sind von ihm Auftritte im Trio bzw. deutlich kürzere Solo-Improvisationen zu erleben.
Musikalisch finden sich in den vier Konzerten alle Ingredienzen, wie man sie von den Solo-Improvisationen des Hexenmeisters an den Tasten aus der Vergangenheit kennt: die Marathon-Länge von bis zu einer Dreiviertel-Stunde, die Form des völlig voraussetzungs- und konzeptionslosen Ansatzes, die unerschöpflich scheinende Quelle eines musikalischen Bewusstseinsstroms aus Jazz, Folk, Klassik, Gospel, minimal music, aus langsam-impressionistischen Sequenzen, meditativen Reduktionen, nicht enden wollenden Ostinati, aberwitzig rasanten virtuosen Läufen und Akkordfolgen, rhythmisch fokussierten wie a-rhythmischen „freien“ Phasen, aus einer unglaublichen Motivvielfalt mit nuanciertester Variation. Dies alles findet sich auch bei den vier aktuellen Trouvaillen aus der Jarrett’schen Schatztruhe – und zwar auch in einer vom Instrument und der Aufnahmetechnik her hervorragenden Qualität.
Das erste Konzert, Modena, beginnt in Part I mit einem ruhigen Herantasten, die Akkorde hinterlassen eine meditative Gelassenheit, bis sie in liedhafte Passagen mit schnellen Läufen wechseln. Eine ostinate Bassfigur – begleitet vom Fußklopfen des Pianisten – leitet unmerklich über zu ekstatischem Spiel, dessen repetitive Muster soulartige Liedformen hervorbringen. Mal meint man die Melodie eines italienischen Volksliedes zu erkennen. Nach rhythmisch-ritualisierten Riffs der linken Hand bis zur Klimax klingt die erste Séance langsam aus, um im Part II mit hochvirtuoser Technik einen abstrakten Klangkosmos zu entwickeln. Die Läufe und Gegenläufe wirken in ihrem Staccato erratisch-rhapsodisch, ein paar kontrapunktisch angelegte Takte klingen nach Bach. Das Free Playing mündet in ein hymnisch-trauriges Lied, das leise und in wiederholten dunklen Moll-Akkorden Part II beschließt. Modena endet mit dem Standard Danny Boy von Frederic Weatherly in einer sehr besinnlich-„romantischen“ Version.
Ferrara Part I entwickelt in ruhigem Spiel mit einem langen epischen Atem einen Jazzsong, die Suchbewegung mag man als etwas langatmig empfinden. Nach einer guten Viertelstunde bekommt das Spiel einen rhythmischen Impact mit schnellen Läufen, der Tastenmagier präpariert einen funkelnden Stein aus virtuoser und rhythmisch packender Klaviermusik in atemberaubendem Tempo. Die letzten Minuten sind wieder im langsamen „klassischen“ Duktus gehalten. Part II arbeitet mit einem jazzrockartigen Ostinato-Muster, ein stampfendes Rhythmus-Pattern animiert zu Tanzreflexen. Die letzte Sequenz schöpft in einer ruhigen Version aus dem Volkslied-Kosmos. Die dreieinhalb-minütige Zugabe Encore entwickelt eine Hymne von großer Nachdenklichkeit.
Torino Part I entwickelt sich nach einer dissonanten ersten Annäherung zu einer verspielten Rêverie, kräftiger werdende Bass-Akkorde begleiten glockenspielartige „Tupfer“ im Diskant. Ungefähr zur Hälfte des über 42-minütigen ersten Teils werden die Läufe sehr schnell. Die für Jarrett obligate ostinate Bassfigur – von kurzen Momenten der Stille unterbrochen – wird allmählich zu einem Hymnus geformt. Eine liedhafte Struktur mit stampfendem Rhythmus bildet den Schlussteil. Part II ist als Rhapsodie mit sehr schnellen Läufen und Arpeggien geformt, ein Zauber an Tempo und pianistischen Einfällen, die mit einer Stride-Piano-Einlage an die Frühgeschichte des Jazz erinnert. Wuchtige Bassläufe begleiten ein wahres Feuerwerk an Virtuosität. Unmerklich geht das Spiel über in ein ruhigeres Fahrwasser mit eher liedhaften Sequenzen. Ein lebhaft gehaltener Song erinnert melodisch und harmonisch an Folk-Idiome.
Das Konzert Genova steigt in Part I sehr direkt mit dissonanten Läufen und Arpeggien ein und vermittelt eine vielleicht mediterrane Leichtigkeit. Eine Walking Bass-Linie fundiert Kaskaden im Diskant, die harfenähnlichen Läufe klingen spätromantisch. Ein Bassgewitter überführt die Musik in einen bedrohlich-dunklen Schwebezustand. Part II beginnt mit einem langsamen Tagtraum und entwickelt eine hochsuggestive Klangmeditation mit starker Eindringlichkeit. Jarretts Spiel demonstriert dabei mit ostinat pochendem Bass ein Fest über die schlichte Schönheit der Melancholie. Der starke Applaus belegt die Suggestivwirkung dieses exzessiv konzentrierten Pianospiels auf das Publikum. Wie erleichtert und befreit greift Jarrett in der Zugabe Encore zu einem straight gespielten Boogie-Blues. Zum Schluss gehört die Präsentation eines Standards zum Ritual: Over The Rainbow in einer sehr zurückgenommenen ruhigen Version – der weite Bogen des ekstatisch freien und nuancierten Formenspiels hat sich in der Tat geschlossen. Großartig.
Keith Jarrett: A Multitude Of Angels. ECM 2500_03