Recklinghausens Wohnzimmer
Drei Jahrzehnte Jazz-Sessions in der Altstadtschmiede
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Vor dreißig Jahren, im Jahr 1985 gab es zwei kulturell bedeutsame Neuigkeiten. Da startete das Privatfernsehen, um den Medienkonsum der Masse zu „revolutionieren“. Zugleich wurde in Recklinghausen eine bis heute kontinuierlich wirksame Jazzinitiative gegründet. Wer also nicht immer nur vorm Bildschirm hängenbleiben will und auch noch das Glück hat, in Recklinghausen oder Umgebung zu wohnen, trifft sich seitdem jeden Donnerstag mit Gleichgesinnten in der Kulturkneipe um die Ecke – zur Jazz-Session in der Altstadtschmiede!
Behaglich und inspirierend ist das dortige „Wohnzimmer-Flair“ für Musiker und Publikum gleichermaßen. Man kennt sich und alles ist so vertraut. Vor allem dem Gitarristen und Musikpädagogen Ingo Marmulla ist diese große Kontinuität zu verdanken. Sei 30 Jahren holt er immer neue herausragende Mitspieler auf die Bühne und schöpft aus seiner bestens gepflegten Vernetzung innerhalb der lebendigen Szene von NRW. Und so etwas passiert in Recklinghausen nachhaltig genug, dass auch 30 Jahre Privatfernsehen diesem Zufluchtsort einer lebendigen Live-Kultur nichts anhaben konnten!
Und da Liebe bekanntlich durch den Magen geht, hat Walter Husung schon so oft die beteiligten Künstler und Musiker im Backstage-Bereich bekocht. Da war es Ehrensache, dass die „legendäre“ Linsensuppe beim Jubiläums-Termin wie immer in verschiedenen köstlichen Varianten gereicht wurde. Gegen eine freiwillige Spende, um die ehrenamtlich arbeitende Jazz-Initiative weiterhin am Leben zu halten...
An diesem Abend begrüßte die Hausband auf der kleinen Bühne eine ganz besondere Legende: Ack van Royen ist niederländischer Trompeter und fast auf den Punkt genau gleichaltrig mit dem großen, viel zu früh verstorbenen Chet Baker. Und van Royen hat mit nahezu allen anderen großen Protagonisten des Jazz zusammen gespielt. Ehrensache für den Trompetenlyriker aus Den Haag war es daher, solche Seelenverwandtschaften mit berühmten „Kollegen“ voller Empfindsamkeit zu demonstrieren.
Seelenvoll und tief empfunden ist sein Spiel in jedem Moment. Musik hält Menschen jung und vital - dafür ist der mittlerweile 85 Jährige Ack van Royen bestes Beispiel mehr. Unangestrengt spielfreudig und tiefenentspannt swingt die Hausband als eingespieltes Team. Ingo Marmulla s perlende, geschichtenerzählende Gitarrenläufe, werden von den federleicht träumerischen Pianospiel Thomas Hufschmidt bereichert. Und das Publikum in der prall gefüllten Altstadtschmiede zeigt sich – wie an jedem Donnerstag - überaus offen und dankbar für so viel seelenvolle Live-Musik. Das besteht an diesem Ort übrigens keineswegs nur aus Jazz-Kennern in gesetzterem Alter. Auch viele jüngere Leute lassen sich von den Jazz-Sessions allwöchentlich anstecken und mitreißen. Einer von ihnen bekundet beim Smalltalk zwischendurch:
„Ich besitze garkeine Jazz-Platten und bin normalerweise Gitarrist in einer Heavy-Metal-Band. Aber das lebendige Feeling, was diese Jazzmusiker hier ausstrahlen, spricht mich unglaublich an“.