Neues entdecken und der Versuchung widerstehen
Das Internationale Jazzfestival Münster 2019
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
Solche Klänge sind eher selten auf dem gediegenen Münsteraner Jazzfestival: Zu abstrakten Videosequenzen durchdringt ein einzelner Ton mit brachialer Wucht den Zuschauerraum. Aber was heißt schon ein Ton? Was Florian Walter auf dem Tubax, einem besonders tiefen Bass-Saxofon zelebriert, ist eine komplexe, nie statische Klangmasse aus mäandernden Obertonereignissen, Flagoletts, aus immer neuen Veränderungen und Abwegen. Und der aus Hamm stammende Improvisationsmusiker weiß, Dramaturgien aus so etwas zu schöpfen! Hochverdient also, dass der kreative Essener in Münsters Stadttheater mit dem begehrten Westfalenjazz-Preis ausgezeichnet wurde - und sich bei der Preisverleihung gleich noch mit einer begeistert gefeierten Soloeinlage auf dem Altsax bedankte....
40 Jahre Jazzfestival in Münster markieren eine beispiellose Erfolgsgeschichte, die vor allem aufs Konto des künstlerischen Leiters Fritz Schmücker geht. Er hat mit diesem Festival den Jazz dorthin platziert, wo er wegen seines universellen Potenzials heute einfach hingehört - in die Mitte des Kulturlebens einer Stadt nämlich! Für die Jubiläumsausgebe widerstand er (siehe oben!) der Versuchung, mit der Aufbietung großer Namen brillieren zu wollen. Denn dafür gibt es einfach zu viel zu entdecken an neuen Klängen, Trends und Einflüssen, wobei in Münster auch Einblicke in aktuelle Szenen europäischer Nachbarländer - in diesem Jahr war Portugal der Länderschwerpunkt – stattfinden.
Tiefempfunden und mit einem riesigen Reservoir an musikalischen Möglichkeiten liefert der Franzose Sylvain Rifflet eine besonders frische Hommagen an den legendären „Moondog“, jenen Underdog, der in New York und später in Recklinghausen und sogar Oer-Erckenschwick wie ein Bettler lebte und trotzdem die Musikgeschichte maßgeblich erneuerte. Auch hier wird einer Versuchung widerstanden: Rifflets Projekt „Perpetual Motion“ verweigert sich jeder nostalgischen Aufpolierung von Moondogs legendärer Musik. Stattdessen werden kompositorische Geniestreiche als Sprungbrett für betont zeitgemäße musikalische Abenteuer genutzt. Zu Beginn kommen die Spieler mit leuchtenden Handys auf die Bühne, als dann feingewebte Minimal Music Teppiche betören und daraus immer wieder Moondogs melodische Hymnen erwachsen. Moondogs Stücke featuren ausgiebig das Saxofon. In der aktuellen Band macht neben dem Bandleader einer der fokussiertesten Spieler, nämlich der gewohnt spielfreudige Jon Irabagon die Sternstunde komplett.
Ernsthafte Festivalleiter reisen viel, um neue Entdeckungen an das eigene Publikum weiter zugeben. Dazu zählt auf jeden Fall die estländische Sängerin, Pianistin Kadri Voorand: Sie macht allerhand Späße auf der Bühne, womit sie auf Anhieb den höchsten Sympathiebonus beim Publikum im Theater bekommt. Aber die junge Dame kann auch Musik machen: So ein sattes, ausdrucksstarkes Organ und eine zwar nur punktuell eingesetzte, dann aber hochkreative pianistische Brillanz machen neugierig, was Kaadri Vorant künftig noch einfällt. Etwas weniger Showeinlagen, dafür noch mehr den Fokus auf das enorme musikalische Potenzial lenken, dürfte künftig hilfreich sein, um die ganzen Talente zu entfalten.
Aber solche verspielten Auflockerungen helfen in Münster, um dann wieder konzentrierter einzutauchen: Wer dies schafft, wird beim Quartett des Cellisten Erik Friedlander mit seinem Quartett verströmt. Wie die vier in melodische Bögen eintauchen, subtile Ideengeflechte verweben, das lyrisch, berührend, interaktiv, transparent, lässt die Zeit vergessen, wärmt die Seele – immer getragen von Friedlanders sphärisch singendem Celloton und einer nie versiegenden Virtuosität.
Zu einem langjährig gewachsenen Festival gehören Begegnungen mit langjährigen Lieblingsmusikern beim Münsteraner Festival: Der französische Bassist Henri Texier ist hierfür wohl einer der Favoriten - und der zeigt auch spätabends im großen Haus sein in Münster vielgeliebtes Charisma: Das drückt sich in einer endlos fantasierenden Einleitung auf seinem Tieftöner aus. Die bündelt genug Spannung, um einen riesigen Szenenapplaus freizuetzen, als schließlich die ganze Band zu schwelgerischen, die Seele wärmenden Melodien aufspielt.
Jazz ist eine universale künstlerische Praxis. Musiker, die dieses Prinzip ernst nehmen und dafür ihre Instrumente gut genug beherrschen, können, ja sollten sich souverän alles erdenkliche, woran ihr Herz hängt, einverleiben dürfen. Aus München kommen Leo Betzl, Piano, Maximilian Hirning, Bass und der Schlagzeuger Sebastian Wolfsburger. Ihr Inspirationsfeld ist die minimalistische, zugleich äußerst vielgestaltige Welt der Techno- und House-Musik. Gerade diese handgespielte Live-Performance dieses Trios macht einmal neu erfahrbar, wie vielgestaltig dieser Kosmos aus subtilen rhythmischen Aktzentuierungen, aus funktionalen, nie zufälligen Klangereignissen, aus subtilen, stets auf die wesentliche maximale Wirkung reduzierten melodischen Fragmenten doch ist. Das Publikum war aus dem Häuschen. Damit es im kleinen Haus der Städtischen Bühnen auch wirklich wie im Berghain zur Sache ging, dafür fehlte nur noch eins: Eine hypnotische Visual-Show auf einer Projektionsfläche im Hintergrund.