Man kann Jazz nicht auch
Das Jazzfest Berlin 2016
TEXT: Peter E. Rytz | FOTO: Peter E. Rytz
Das Jazzfest Berlin lebt. Auch mehr als ein halbes Jahrhundert nach seiner Gründung 1964 hat es nichts von seiner Vitalität eingebüßt. Mehr noch, es ist, als Institution selbst schon Legende, inzwischen legendär für seine jährlich neu entfachten Jazz-Herbststürme.
Generationsübergreifende Stürme im Wechsel mit meditativer Nachdenklichkeit, die eines gemeinsam haben: The Art of Conversation. Richard Williams hat im zweiten Jahr seiner künstlerischen Regentschaft das Jazzfest Berlin 2016 nicht nur mit diesem Motto apostrophiert. Sie ist Wirklichkeit geworden, die in ihrer kreativen Balance von Improvisation und Komposition in der Kommunikation sowohl im Duo als auch in größeren Besetzungen überzeugt.
Das Jazzfest Berlin ist für viele Besucher ein jährlich wiederkehrendes, verlässliches Ritual, um sich gegenseitig und immer wieder neu mit der Liebe zum Jazz auch einer wesentlichen Facette der eigenen Identität zu versichern. Man kann Jazz nicht auch!, diese fast schon philosophische Replik, die auf den vor zwei Jahren verstorbenen Vollblutmusiker George Gruntz und künstlerischen Leiter von 1972 bis 1996 zurück geht, beschreibt mit wenigen Worten präzis das, was dem Einzelnen Maßstab für ein gelingendes Leben sein kann. Leben auch, im Dickicht alltäglicher Beliebigkeiten irgendwie an den Rand gedrängt, wird hoffnungslos bleiben.
Dass auch der Bund Jazz kann, versicherte die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters der Berliner Jazzgemeinde in ihrer Begrüßungsrede mit ministerial eher ungewöhnlicher Offenheit. Jazz sei nicht nur unverzichtbarer Bestandteil unserer Kultur, sondern genieße auch in ihrem Leben uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Aus ihrer Hoffnung, dass das Jazzfest zeigen möge, wie Frauen an der Männerdomäne Jazz erfolgreich kratzen, erwächst ihre musikalische Tatkraft. Sie hat diese vier Tage im Herbst 2016 wesentlich geprägt.
Frauenpower nicht als feministisch aufgeladener, programmatischer Wettstreit, sondern eine von Kreativität geprägte Dialogkultur im gemeinsamen Musizieren. Klangfindungsexpeditionen als work in progress.
Auf der Hauptbühne des Berliner Festspielhauses gibt Julia Hülsmann mit ihren bewährt spielfreudigen Quartett-Mannen zusammen mit der jungen, doch schon eindrucksvoll präsenten Alt-Saxophonistin Anna-Lena Schnab, die Richtung des viertägigen Konzertmarathons vor. Hülsmanns Konzertprogrammvorgabe - jeder Musiker gibt mit einer Eigenkomposition einen Take vor - erweist sich als beispielhaft inspirierend. Schnabel, dem Alter nach noch ein Grünschnabel, verbläst vehement, mit viel Gespür für improvisierte Breaks und Linien auch nur den leisesten Anflug von Jazz-Grünschnäbligkeit.
Überhaupt, das Saxophon. Auffällig viele Musikerinnen hängen es sich schwergewichtig um ihre eher zarten Hälse. Der äußerlich wahrnehmbare Gegensatz zu den filigran leichtgewichtigen Körpern der Saxophonistinnen verschwindet mit den ersten Tönen.
Wenn Mette Henriette minimalistisch in ihr Horn haucht, perlen Lyrismen von sanfter Klangschönheit. Ihr 13-köpfiges Ensemble mit der Jazz-Quintett-Besetzung Trompete, Posaune, Klavier, Bass und Schlagzeug, gemeinsam mit einer klassisch besetzten Streichergruppe, transponiert zusammen mit dem akzentuierenden Bandoneon-Spieler Andreas Rokseth Mette Henriettes Klangvorgaben in kosmisch anmutende Klangfarbigkeit.
Neben den großflächigen Kommunikationen setzt Richard Williams auf intime Duo-Dialogakzente. In der Festivalreihe Brooklyn-Berlin-Dialogues erfindet die grandiose Saxophonistin Ingrid Laubrock in der Jazzkneipe A-Trane zusammen mit der Lady des improvisierten Klavierspiels Aki Takase ebenso überzeugende Grooves wie einen Abend zuvor mit der Gitarristin Mary Halvorson.
Dass eine solche Intimität auch auf der großen Bühne möglich ist, zeigt das Konzert von Brad Mehldau (p) und Joshua Redman (sax). Kein berserkerhaftes Serve-and-Volley, sondern Etüden zwischen einsamer Verlorenheit und kraftvollem Aufbegehren. Kaum zu glauben, dass es auf der Berliner Bühne ihre ersten konzertanten Dialoge sind.
Wie jedes Festivals gut beraten ist, wenn es auf eine gesunden Mischung von Bewährtem und Neuem setzt, garantieren 2016 auch die Heroen der Anfangsjahre, wie Alexander von Schlippenbach (p), Manfred Schoof (tp, flgh) oder Evan Parker (sax) mit dem Globe Unity Orchestra sowie der begnadete Trompeter Wadada Leo Smith mit seinem Great Lake Quartet für verlässliche Sound-Topoi.
Welches sichere Gespür für neue Sound-Perspektiven und Mut zum Experimentellen die Programmmacher haben, beweisen sie mit dem Abschlusskonzert von Eve Risser’s White Dessert Orchestra. Eve Risser mischt seit einigen Jahre die französische Jazzszene vom Rand her auf. Mit ihrer Herkunft aus dem Elsass mag eine Neugier nach zentraleren Lebensorten begründet sein. Ihre singuläre Erfahrung einer schneebedeckten Wüste hat sie als musikalische Erfahrung ins Grundsätzliche transformiert. Um Stimmungen und Gefühlen in ihren Reflexzonen musikalisch nachzuspüren, hat sie wie mit der Flötistin Sylvaine Hélary und der Fagottistin Sara Schoenbeck Musikerinnen gefunden, die ihren Kompositionen im Zusammenspiel mit den straighten Jazz-Instrumenten eine melodische Klassizität von Improvisation und Komposition geben.
Auf dem Weg mit dem öffentlichen Nahverkehr zum Haus der Berliner Festspiele wirbt das Jazzfest Berlin im U-Bahnhof Spichernstrasse mit einem Zitat von Alexander von Schlippenbach: Das kosmische Auge im Mittelpunkt und der Peripherie der Kugel sieht Strukturen gleichzeitig von allen Seiten…Sie ziehen ihre Bögen nach dem Abbild des Lebens.
Dem Jazzfest Berlin 2016 ist es gelungen, den musikalischen Bogen nach dem Abbild des Lebens in den Alltag zu ziehen.