Immer wieder frisch und neu
Umland Expo virtuell
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: screenshots
Ganz dringend mal hätte in diesem Jahr der Besuch des Umland-Festivals auf der Agenda gestanden - dann kam leider alles anders aufgrund allseits bekannter Umstände. Umso erfreulicher, dass von diesem Kollektiv nun mit der „Umland-Expo“ ein virtuelles Live-Format, per stream aus dem dortmunder domicil vorliegt. Wie immer es auch aus dem Umland schallt – neu, immer wieder anders, ästhetisch herausfordernd und progressiv ist es allemal.
Vier Konzertteile bilden ein kleines, aber feines virtuelles Umland-Festival, welches Florian Walter als Kurator zusammen stellte. Das bekräftigt die Erkenntnis: Umland bringt ständig Neues und Frisches hervor, eben weil hier so viele fabelhafte Musikerinnen und Musiker ihre Ideen bündeln, kommunizieren, wachsen lassen.
Hanna Schörken, die kompromisslos alle vokalen Grenzbereiche erkundende Stimmkünstlerin trifft im ersten Set des Livestreams auf die Pianistin Reiko Okuda. Beide vereinen sich zum kraftvollen Prozess mit immensem Sogfaktor. Eine der Quellen ist die Stimmartistik von Hanna Schörken, die so befreit agiert, wenn sie abstrakte Vokalisen zu Linien formt, radikal gebärdende, manchmal perkussive Momente freisetzt, aber sich zuweilen auch zu archaischer Poesie aufschwingt. Ihre Partnerin Reiko Okuda steht dem nicht nach, ihr Spiel wirkt wie ein nicht enden wollender, oft perkussiv aufgeladener Strom. Man muss diesem Klavierspiel eine wandlungsfähige leichtfüßige Freejazz-Diktion attestieren, die aufhorchen lässt.
Die Komponisten der neuen Musik schöpfen aus imaginären Vorgängen, bannen diese auf Partituren, die bei einer Uraufführung im Idealfall zu leben beginnen. Die Band „Hilde“ bewerkstelligt so etwas viel direkter und intuitiver, weil zum großen Teil aus der Improvisation heraus. Bei der aktuellen Umland Expo agiert Hilde aber nur als rein instrumentales Trio, da Sängerin Marie Daniels verhindert war. Schade, aber auch eine interessante Reduktion, wenn sich Streicherklänge ( Julia Brüssel , Violine, Emily Widtbrodt, Cello) und Maria Trautmann s experimentierfreudiges Posaunenspiel expressiv verdichten und viele neue, oft sehr filigrane Verbindungen eingehen.
Eine Art Sprache, auf jeden Fall eine kraftvolle instrumentale Rhetorik bewerkstelligt danach Jan Klare allein auf seinem Saxofon. Er lässt die Klänge, Gesten, Formeln sprechen, sich entwickeln und verändern, macht gerade durch Wiederholungsschleifen viele Feinstrukturen, Randbereiche erlebbar. Ebenso die immensen Gestaltungsmöglichkeiten mit Flagoletts und die zeitliche Ausdehnung von Klangereignissen durch Zirkularatmung. Auch dieses Recitel stellte mehr Fragen an die Musik, als dass es vorgefertigte Antworten gab, nahm Hörende in weit entfernte Erlebniszonen mit, wo die Tugend herrscht, Unbekanntes freizulegen.
Hedonistisch und klanggewaltig ist die Belohnung zum Schluss für so viel forderndes aktives Zuhören zuvor. Die Band ENDE aus Essen macht wohl hoffentlich noch lange nicht seinem Name Ehre (ausgeschrieben heißt es Essener Noise Dub Ensemble) denn die Welt braucht genau das, was hier gelebt wird. Es geht um trancigen Dub mit allen bewährten Attributen bzw. einer beschleunigten, im Heute aktualisierten Variante davon. Die BPM-Zahl, die Schlagzeuger Simon Camatta , einem hyperpräzisen Uhrwerk gleich, heraushaut und synkopenlastig verfeinert, liegt deutlich über den „klassischen“ Genre. Das ist gut so, damit es richtig hypnotisch nach vorne treibt. Für sphärischen Spacesound und spielfreudige Licks sorgen Posaunist Max Wehner und Gitarrist Stefan Kirchhoff, derweil Moritz Anthes seinen Tiefbass wabern und pumpen lässt und zusätzliche Samples und verästelnd variierte Strukturen die Mischung anreichern. In Kombination mit guten Boxen, viel Watt aus dem Verstärker und gehaltvollem Rauchwerk ist dies genau das richtige für weihnachtliche Abende daheim! Und noch viel viel besser prädestiniert so etwas für das Live-Erlebnis ohne Sitzbestuhlung mit tanzwütigen Menschen und genug Visual Effects.
Link zum kompletten Liveset, ca 2,5 Stunden lang!
https://www.youtube.com/watch?v=Ncrb1tsF1ts