Bild für Beitrag: ​Den Bunker beben lassen | Mut zum Unperfekten bei „Free Essen“
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​Den Bunker beben lassen

Mut zum Unperfekten bei „Free Essen“

Essen, 27.09.2015
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper

Das Ruhrgebiet hat seinen rauen Charme. Phasenweise glänzt es richtig metropolenmäßig, dann wieder fühlt man sich vor allem im dunkeln, vom indifferenten urbanen und oft auch vorstadthaften Dschungel aufgesogen. Straßenschluchten und Düsterkeit – dazwischen liegen Zufluchtsorte. Zum Beispiel der Essener Goethebunker. Düstere Gänge führen ins Gemäuer hinein - plötzlich fluten psychedelische Lichteffekte und machen klar, dass sich hier die freie Clubszene eine ideale Location mit Atmosphäre erobert hat. Man muss nicht immer nach Berlin reisen für so etwas!

Und dass so eine urban-raue Örtlichkeit auch für die freie Improvisationskultur taugt, hat längst die Jazzoffensive Essen erkannt, wenn sie alljährlich – mittlerweile zum neunten Mal- ihr dreitägiges Festival der freien Klänge hier veranstaltet. Leider stand im eng getakteten eigenen Zeitplan nur ein Abend zur Verfügung – und dieser dritte Abend hätte, wie vermutlich die ganze Veranstaltung mehr Publikum verdient!

Und es leben Gegenpole – Schnittstelle ist der Anspruch, frei und fantasievoll, nicht angepasst zu sein. Der Brite Paul Lytton, Schlaginstrumente sowie der Kölner Nicola L. Hein, Gitarre Soundeffekte treffen hier den Nerv der erstaunlich gut vernetzten Impro-Szene. Leise Klänge, gestische Aktionen, der Einsatz von Stille und die komplette Dekonstruktion auch der letzten übrig gebliebenen „musikalischen“ Mittel ist das Anliegen der beiden. Entsprechend viel Konzentrationsvermögen und Eintauch-Bereitschaft wird den Zuhörern abverlangt. Diese sind aber konzentriert mit dabei, wenn Lytton sich forschend mit einem Kosmos aus Metallgegenständen auseinandersetzt und Nicola Hain mit allerhand klingenden und geräuschhaften Aktionen - im allerweitesten Sinne betrachtet – „Gitarre spielt“. Die Dekonstruktion musikalischer und instrumentaler Rollen ist vor allem Nicola Hein s künstlerisches Anliegen.

Danach erbebt der Bunker im Gegenteil: Jan Klare und Alex Schwers lassen es krachen im alten Gemäuer. Hier braucht man als Hörer keine mit-forschenden Fühler ausstrecken, hier wird man sowieso überrollt, bedröhnt und überwältigt. Wo sonst bei den Clubnächten in diesem Saal eine Sound-Anlage von Berghain-Qualitäts- und Leistungsniveau den Weltkriegs-Stahlbeton erschüttert, da musizieren jetzt zwei Ruhrgebiets-Musikberserker in bestem archaischen Sinne. Das fühlt sich an wie zu Jugendzeiten, wo man mit Bands in alten Bunkern abhing, die in solchen Katakomben ihre Probenräume hatten. Lebensenergie. Wut. Auf Instrumente eindreschen.

Aber Klare und Schwer lassen all diese Klang-Lavaströme aus einer aufgeklärtem weitgespannten Hör- und Musizierhorizont von heute kommen: Schwere bündelt alles, was er in Punkbands wie Slime oder Hass erworben hat (ja, auch die gibt es noch, jene einst als international gefragteste Marler Band berühmt wurde), entfesselt höllische Grooves, aber improvisiert auch mit rasenden rhythmischen Mustern über so etwas. Jan Klare pumpt derweil fetteste Luftströme durch sein Bass-Saxofon, welches an allerhand Technik zur Klangmanipulation angeschlossen ist. Sie fräsen sich durch das dunkle Gemäuer, türmen unerbittliche Rock-Grooves und bedrohlich wabernde, wuchernde Soundflächen vor allem im Tonspektrum auf. Manchmal poltert es martialisch genug wie in einem knochentrockenen Techno-Track, vor allem wenn Klares Saxofon dazu verzerrte repetitive Muster und markerschütternde Subbässe entfesselt. Das alles wirkt manchmal skizzenhaft und mitreißend spontan, leistet sich auch durchaus so manche Unperfektheit. Dafür ist alles rauh und ehrlich und verschmilzt perfekt mit der Location. Ruhrgebiets-Charme pur!

Und es geht gleich gehaltvoll musikalisch weiter im Goethebunker. Am Mittwoch 7. Oktober feiert an diesem Spielort eine neue Reihe ihr Debut, nämlich die Betonmusik. Und da Fillippa Gojo, Gesang, Shrutibox, Kalimba und Sansula sowie Sven Decker , Bassklarinette, Klarinette und Glockspiel vermutlich kammermusikalischer zu Werke gehen, werden voraussichtlich an diesem Abend Gemäuer und Gehörgänge geschont.

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