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Zukunft von gestern, heute noch tanzbar

Kraftwerk auf Multimediatour 2025

Lingen, 06.12.2025
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper

Die A31 liegt friedlich da an diesem Abend, fast leer. Ein ruhiger, fließender Strom aus Asphalt, als würde schon das berühmte Stück „Autobahn" mit seiner unhektischen Gleichförmigkeit erklingen. Wir sind unterwegs zur Lingener Emslandhalle, wo Kraftwerk im Rahmen der großen Multimedia-Welttournee absteigt – die Venues in NRW waren längst ausverkauft. Da die Tickets als Geburtstagsgeschenke für Freundin und Nachwuchs herhielten, wurde der Abend ein geselliger Familienausflug. Das hat was, und tatsächlich waren auch viele Eltern mit ihrem Nachwuchs in der Halle, die nicht nur wegen der hervorragenden Anfahrbarkeit eine entspannte Wahl für Großkonzerte ist.

Grobpixelige Figuren wie aus der C64-Zeit leuchten über der noch leeren Bühne, die Steuerpulte für die vier Musiker noch verwaist. Das inspiriert zu manchem Erzählaustausch über erste Erlebnisse mit Computern. Dann deutsche Pünktlichkeit: Schlag 20 Uhr übernehmen die vier Protagonisten das Regiment – von denen nur noch Ralf Hütter zur Gründungsbesetzung gehört.

Aktuelles Sounddesign und bombatische Visuals

Die Suite aus „Nummern", „Computerwelt" und „Computerwelt 2" eröffnet den Abend, überlagert von Publikumsjubel – ein idealer Start, der die ganze charismatische Ausstrahlung bündelt. Die Ganztonskala schimmert durch die Harmonien dieser minimal-melodischen Sequenzerarbeit vom bahnbrechenden 1981er Album, ironische Textzeilen über Alltagstechnik schweben durch den Raum. Alle Stücke dieses Repertoires sind wie in Stein gemeißelte Klassiker, aber ihr Sounddesign befindet sich in einem permanenten Prozess der Aktualisierung. Also pulsieren die Beats auf der Höhe der Zeit, einschlägige Details wirken bei Kraftwerk 2025 neu aktualisiert und abgemischt. Der Sound in der Halle ist schon etwas wummerig, aber dennoch glasklar offen für auch subtile architektonische Merkmale der kunstvoll gebauten Stücke, die auch bei allem Pop-Appeal zum Zuhören und niemals zum Mitsingen herausfordern

Von Krautrock zur Weltmarke ohne Verfallsdatum: Kraftwerk hat den elektronischen Paradigmenwechsel erfunden. Aus dem experimentellen Krautrock der frühen Siebziger hervorgegangen, war die Band einst die trotzige Absage an den angloamerikanischen Kulturimperialismus. Hütter und der 2020 verstorbene Florian Schneider legten in ihrem Düsseldorfer Kling-Klang-Studio die Grundlagen für alles, was danach kam – von Synth-Pop über Detroit Techno bis Hip-Hop. Die New York Times nannte sie die „Beatles der elektronischen Tanzmusik". Dass sie dabei konsequent eine Marke verkörperten, hat die Band zum weltweiten Erfolgsprodukt ohne Verfallsdatum werden lassen. 2025 klingt das immer noch frisch.

Was Kraftwerk 2025 präsentieren, ist klassische Musik im eigentlichen Sinne: musikalische Ideen, die für sich stehen, unverrückbare Ideale, die sich aber in neuen Kontexten bewähren. Die Visuals sind erwartungsgemäß bombastisch. Grafiken beschwören Zukunftsmythen: Computerwelt, Weltraumfahrt, Urbanisierung, Mobilität, digitale Beziehungen, wie sie etwa das Stück Computerliebe geradezu seherisch voraussieht. Zivilisationsmythen werden hier zur Setlist. Kraftwerk macht daraus eine Kunstform, die durch ihre kühle, manchmal leiht ironische Ästhetisierung niemals pathetisch oder gar moralisierend wirkt.

Nach dem charismatischen Einstieg folgt zunächst die routinierte Dramaturgie eines durchproduzierten Popkultur-Events. Einige unbekanntere Nummern langweilen sogar etwas – vermutlich sind dies Stücke von den ganz alten LPs, die auch heute noch etwas unausgegoren wirken. Und schade auch, dass bei der Show in Lingen ein neues Überraschungs-Feature dieser Tournee vorenthalten wurde, nämlich die Videoeinlage mit einem prominenten Skateboard-Fahrer.

Mitten im durchchoreografierten Set bricht Hütter die gefühlte Automatisierung auf. Er spricht zum Publikum, erzählt von einer Begegnung mit Ryuichi Sakamoto in Tokio. Die Band widmet ihm ein gefühliges Stück namens „Merry Christmas Mr. Lawrence" – die melancholische Piano-Melodie adaptiert in elektronischer Textur.

„Autobahn" – dieses monumentale Stück von 1974 – bietet in der Konzertmitte guten Zusammenhalt. Der Dopplereffekt als Soundglissando: jene auf- und abschwellenden Töne, die vorbeifahrende Autos imitieren und die Kraftwerk einst auf dem Minimoog nachbauten. Das letzte Drittel türmt die großen Monumente in hypnotischer Abfolge auf. Die „Tour de France"-Suite in voller Länge: rhythmisch-sportliche Sequenzer, mechanische Pedal-Grooves und immer neue Samples verdichten die Bewegung, ästhetisieren die Anstrengung, erzeugen eine audiovisuelle Dynamik, die sich nicht mehr steigern lässt. Gepaart mit jener Eleganz, mit der diese deutscheste aller Bands zur französischen Sprache überwechselt! Für mich seit Jahrzehnten ein Paradebeispiel kühler, ästhetisch reiner Stilisierung von Fortschritt und Ambition.

„Trans-Europa Express“ in seiner Extended Version gerät, worauf Verlass ist, weil es dieses Stück einfach will, zum mächtigsten Track dieser Show. Auch hier eine genial-einfache Ganztonskala als wichtiger Baustein. Der stählerne Rhythmus eines Eisenbahnzuges überholt dann jede noch so fette Industrial-Nummer mühelos, während eine neue Computergrafik die ganze Bewegungsdynamik auch visuell auf die Spitze treibt. In der Welt da draußen fiel mal wieder ein Zug aus, was ein anreisendes Familienmitglied in arge Bedrängnis brachte. Manche Mythen, die in Kraftwerks Musik zur Hochform auflaufen, haben in der Realität längst Risse bekommen.

Planet der Visionen

„Planet der Visionen" weckt Reminiszenzen ans magische Jahr 2000 – huch, wie lange ist das schon wieder her! Das Stück entstand als Jingle für die Expo 2000 in Hannover und wurde zu einer atmosphärischen Komposition mit weiten Synth-Flächen verdinglicht. „Musique Non Stop" führt Kraftwerks Gebrauch von Sprache idealtypisch vor: Musik als Träger von Ideen, die zeitlos sind.

Wie es mit „Computerwelt" begann, endet es mit „Die Roboter". Die bombastischen Visuals laufen nochmal zur Höchstform auf. Als der Applaus kein Ende nehmen will, lösen sich die vier gesetzten, kultivierten Herren aus der statischen Inszenierung und bedanken sich routiniert für den Jubel. Dann ist es plötzlich nicht mehr farbenfroh – nur noch die funktionale Nüchternheit einer neonbeleuchteten Mehrzweckhalle. Für 83 Euro gab es 22 Songs in 135 Minuten – und 50 Jahre Zukunft im Schnelldurchlauf. Wir sparen uns den Einkauf weiterer „Konsumprodukte“ am Merch-Stand, aber nehmen einen der Plastiktrinkbecher mit dem Autobahn-Logo drauf mit nach Hause – ein kleines, feines Souvenir an einen feinen, gemeinsamen Abend.

Auf dem Parkplatz angeregte Diskussionen. Typisch deutsch, diese etwas steife Inszenierung? Ja, das kann man auf jeden Fall so sehen. Aber auch zeitlos cool – wie alles, was aus der Vergangenheit in die Zukunft blickt, was immer spannender ist als irgendwelcher Retroscheiß. Und humorvoller als so vieles, was in der hektischen, digitalen, auch digitalen Welt rumrotiert. Wegen der hohen Nachfrage wurden weitere Zusatzshows bekannt gegeben. Ja: Kraftwerk live muss jeder einmal erlebt haben.


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