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"Zorntag in Moers" - Eine Retrospektive

moers festival 2013

Moers, 19.05.2013
TEXT: Ingo Marmulla | FOTO: Kurt Rade

"Zorntag" – Eine Retrospektive Im September wird John Zorn 60 – aus diesem Anlass hat er einen Rückblick auf sein umfangreiches Schaffen konzipiert, das mit seinen langjährigen Mitstreitern weltweit aufgeführt wird. So auch am Eröffnungstag des New Jazz Festivals in Moers.

Für das Festival ist dies ein Novum. Zum ersten Mal inszeniert einzig und allein eine Person den kompletten Programmtag. Und Zorn hat eine ganze Menge zu bieten. Wohl kaum ein anderer Musiker der gegenwärtigen Musikszene hat sich mit so unterschiedlichen Stilistiken auseinander gesetzt wie John Zorn. So dürfen wir gespannt sein, welchen Bogen er spannt, welche musikalischen Partikel sein retrospektives Ganzes ergeben. Der Abend ist viergeteilt:

Set one: Song Project. Das Konzert beginnt ganz entspannt mit unterhaltenden Klängen aus Zorns Feder, angesiedelt irgendwo zwischen Rock, Latin und Folk. Die Sängerin Sofia Rei beginnt in ihrer sympathischen Art mit Rumba-Rhythmen, immer wieder solistisch unterstützt von Ribots Gitarre, Wollesens Vibraphon- und Medeskis Klavierspiel. Sehr einfühlsam, übrigens bei all seinen Auftritten heute Abend, ist der Percussionist Cyro Baptista. Der Gesang Mike Pattons ist deutlich energetischer. Die Songs, die er interpretiert, erinnern ein wenig an die Balladen Elvis Costellos. Interessant auch die Darbietung von Jesse Harris, dem wir einige schöne Liedkompositionen verdanken, u.a. "Don't Know Why" von Norah Jones etc. Alles klingt sehr ruhig und getragen, geradezu leicht, sehr ungewöhnlich für ein Jazzfestival. Aber Zorn trennt und wertet nicht zwischen U- und E-Musik. So ist denn dieser Einstieg eine Hinführung zu seinem "Geburtstags"-Konzert. Der Meister sitzt lächelnd, sich offensichtlich wohlfühlend neben Ribot, und gibt Handzeichen für alle beteiligten Musiker. Für mich an dieser und auch an späteren Stellen etwas verwunderlich. Scheinen doch diese ersten Kompositionen recht übersichtlich zu sein...

(John Zorn cond, Mike Patton voice, Jesse Harris voice, git, Sofia Rei voice, Marc Ribot git, John Medeski p, Trevor Dunn b, Kenny Wollesen vibes, Cyro Baptista perc, Joey Baron dr)

Set two: Illuminations. Angekündigt ist "Illumination" als "ein wildes Klavierstück, inspiriert und benannt nach einer Gedichtfolge des radikalen französischen Dichters Arthur Rimbaud". Dieser gesamte zweite Set ist völlig gegensätzlich zum ersten. Ein gezielter klanglicher Bruch. Es geht um Zorns notierte Kompositionen, die man vielleicht der neuen Konzertmusik zuordnen könnte. Auf Zorns Internetseiten kann man sogar die Notationen einsehen und in mp3-Form anhören, bevor man eventuell die CD käuflich erwirbt. In "Illuminations" wird der virtuosen Klaviernotation die Improvisation von Kontrabass und Schlagzeug entgegengestellt. Gosling am Flügel spielt überzeugend und wird kongenial von Dunn am Bass (er ist der einzige Bassist des Konzertabends!) und vor allem von einem ungemein dynamischen Wollesen am Schlagzeug umkleidet.

(Steve Gosling p, Trevor Dunn b, Kenny Wollesen dr)

Für mich bietet der zweite Set die meisten Höhepunkte. Interessanterweise agieren hier Musiker und Musikerinnen, die meistens in der Konzertmusik unterwegs sind und im übrigen ohne Anweisungen Zorns auf der Bühne stehen.

Holy Visions. (Ein Mysterienspiel in 11 Strophen um das Leben und Schaffen der Komponistin, Heilerin und Visionärin Hildegard von Bingen)
Wir hören ein Gesangsquintett von drei Sopranistinnen, sowie Mezzo- und Contra-Mezzosopran. Das Stück beginnt mit Choralartigen Sequenzen. Begleitungen erinnern an die Ars-Nova und gehen zu freien Harmonien über. Stimmlich unglaublich überzeugend, schaffen es die fünf Sängerinnen diese Komposition mit sicherer Intonation vorzutragen. Der musikalische Höhepunkt des Abends. Akkordschichtungen, wechselnde Taktarten, seriell wechselnde Klangpatterns, Übergänge vom Singen zum Sprechen, zum Flüstern - fast alle Parameter des Gesangs kommen zur Entfaltung. Die Leitung hat die Sopranistin Lisa Bielawa, unterstützt und wird sie von Sängerinnen der Weltklasse, die einem den Atem verschlagen.

(Lisa Bielawa voice, Martha Cluver voice , Melissa Hughes voice, Abby Fischer voice, Kirsten Sollek voice)

The Alchemist ("Eine Reise durch das Labor eines Alchemisten" aus dem Kreis um die englische Königin Elisabeth I.)
Erstaunlicher Weise geht es in diesem Teil des Konzertes fast ausschließlich um historische Persönlichkeiten des "Christlichen" Abendlandes, nicht wie man hätte erwarten können, um Pesönlichkeiten der "Jüdischen" Geschichte, hat doch Zorn mit seiner "Radical Jewish Culture" zur Diskussion beigetragen, in welcher Relation Musik und religiöse Traditionen stehen. Aber auch hier ist sein Konzept keine Einbahnstraße. Zurück zur Musik: Das Adritti String Quartet live erleben zu dürfen ist schon allein den Konzertbesuch wert. Wenn man sieht und hört, mit welcher scheinbaren Leichtigkeit die unfassbaren Notenflächen umgesetzt werden (wie gesagt, man kann sie sich im Internet anschauen.), dann weiß man auch, warum diesem Quartett kaum ein anderes Ensemble das Wasser reichen kann...

(Arditti String Quartet: Irvine Arditti viol, Ashot Sarkissjan viol, Ralf Ehlers viola, Lucas Fels cello)

Set three: Moonchild / Templars (Tribut an die "Arme Ritterschaft Christi und des salomonischen Tempels zu Jerusalem)
Nach den überwiegend notierten Kompositionen Zorns finden sich in diesem Teil wieder die Musiker seiner Band Masada zusammen. Zunächst sind es Mike Patton voice, John Medeski org, Trevor Dunn b und Joey Baron dr. Dieses Stück (über die Tempelritter) war für mich persönlich der einzige wirkliche Tiefpunkt des Abends. Man hätte es wissen können. Der Provokant in Zorn hat an etlichen Stellen darauf hingewiesen, dass seine Musik auch körperliche Schäden hinterlassen kann, keine Garantie auf Unversehrtheit also. Bei mir stellte sich nach dieser Peformance starker Kopfschmerz ein, bedingt durch einen überlauten E-Bass mit brachialen ostinaten Hardchore-Rhythmen, permantem Geschreie Mike Pattons, lediglich unterbrochen von kurzen Up-Tempo Swingeinlagen von Medeski an der übersteuerten Orgel und einem dennoch überzeugenden Joey Baron am Schlagzeug. OK, was soll's ...

Set four: Dreamers / Electric Masada
(John Zorn cond, Marc Ribot git, Jamie Saft keys, Trevor Dunn b, Kenny Wollesen vibes, drm, Joey Baron dr, Cyro Baptista perc, Ikue Mori elec)

Gut erkannt. Das Publikum braucht Erholung! So vernehmen wir jetzt locker flockigen (Fusion-) Jazz, vorgetragen von wahren Künstlern ihres Instrumentes. Aus den "Dreamers" wird "Electric Masada", hier zusätzlich unterstützt von Ikue Mori an den Electronics. Zorn freut sich sichtlich über die Interpretation seiner Stücke, die zunächst eher "easy listening" sind, aber langsam Fahrt aufnehmen, um zum letzten Höhepunkt des Abends zu führen. Die Musik, sehr perkussiv (mit zwei Schlagzeugern) wird getragen von Jamie Saft (Fender Rhodes) und vor allem von einem überragenden Marc Ribot, der die Themen sicher vorträgt und improvisatorisch unterstreicht mit Sounds aus den Sechzigern (Tremolo, Hall) bis hin zu modernen Rocksounds und Free-Anklängen. Erstaunlich auch, wie ruhig er die ständigen Spielanweisungen erträgt, die Zorn, der direkt neben ihm sitzt, ohne Unterlass erteilt. Spannend wird es gegen Ende des Konzertes, als Zorn zu seinem Altsaxophon greift. Ein freies Stück mit kurzen Themenfetzen, abrupten Schlüssen und Übergängen, die impulsiver nicht sein können. Hier erleben wir den "echten" Zorn, den man sich schon eher gewünscht hätte. Man spürt die Kraft, die von diesem Mann ausgeht, die Kompromisslosigkeit, mit der er seine Musik aufbaut. Wahrlich, eine beeindruckende Persönlichkeit, dieser John Zorn. Das Publikum ist begeistert, tobt und erzwingt eine Zugabe.

Ich persönlich bin dankbar, diesem Musikerlebnis beigewohnt haben zu können. Zum "Zorn-Jünger" bin ich nicht geworden. Sich mit dem Musik-Kosmos dieses Komponisten und Improvisateurs auseinanderzusetzen, hat sich dennoch gelohnt.

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