WIR SIND DAS RUHRGEBIET
Gedanken zum New Colours Festival
TEXT: Peter E. Rytz | FOTO: Peter E. Rytz
Sozialpolitische Rankings weisen Gelsenkirchen häufig als die ärmste Stadt Deutschlands aus. Wenn sie überhaupt in den überregionalen Fokus gerät, wird sie bestenfalls als sozialromantisches Abziehbild einer abgehängten Stadt kolportiert.
Seit Jahren engagieren sich Susanne Pohlen und Bernd Zimmermann für einen Blickwechsel. Überzeugt, dass es lohnt, genauer hinzuschauen und hinzuhören, sind sie mit dem New Colours Festival in die Offensive gegangen. Der Name ist Programm. Eine Einladung, die farbige Vielfalt Gelsenkirchens, die sich nicht unbedingt auf den ersten Blick einstellt, mit Jazz eindrucksvoll musikalisch zu beleuchten. Nichts weniger als Orte mit ihrer kreativen Leuchtkraft zu entdecken. Schloss Horst, das bedeutendste Renaissance-Schloss Westfalens, sowie der architektonische Leuchtturm der Heilig Kreuz Kirche, Zentrum des Kreativ-Quartiers Ückendorf, die nach ihrer Profanisierung seit 2022 als vielversprechender Veranstaltungsraum genutzt wird, sind beispielhaft dafür.
Geradezu magisch zelebrieren die Pianisten Arnold Kasar und Joachim Kühn mit ihren Konzerten in Schloss Horst eine Performance, die der Idee New Colours festival einen sinnbildlichen Ausdruck gibt. In der Unterschiedlichkeit ihrer Auffassungen von improvisierter Musik – Kasars Improvisationen in einem harmonische Hallraum, ergänzt mit elektronischen Samples versus Kühns keine Grenzen zwischen Dur und Moll anerkennenden, energetisch aufgeladenen Improvisationskaskaden eines Weltbürgers – artikulieren sich Reizschwellen zwischen subtil deklinierter Tradition und radikalem Infragestellen musikalischer Klanggewissheiten.
ENERGIE UND AUSDRUCK IN DER WAAGSCHALE
Resonanz, nicht nur der Titel von Kasars aktuellem Soloalbum, sondern auch Selbstverständnis der ansonsten sehr unterschiedlichen, spielintelligenten Improvisatoren. Joachim Kühns Konzert, eine Hommage an seinen im August verstorbenen Bruder Rolf lässt keinen Zweifel, in welche Richtung seine Reise weitergehen wird. Von Jazz-Heroen wie Ornette Coleman, Archie Shepp oder Pharaoh Sanders beeinflusst, inzwischen für nachfolgende Generationen selbst zum Vorreiter geworden, wirft er mit jedem Konzert alles in die Waagschale, was ihm an Energie und Ausdruckskraft zur Verfügung steht. Manchmal sogar darüber hinaus.
Unter seinen goldenen Händen - wie er sie selbst einmal in einer Dokumentation genannt hat – entladen sich die Energieintervalle kraftvoll und markant. Entrückt in seinen eigenen Kosmos, blinkt wechselweise strahlende Zufriedenheit mit durchzitterter, unbändiger, als geradezu verzweifelt anmutender Suche nach einem utopischen Freiland um die Wette. Emotional aufgeladen, rollt, wie es scheint, eine Träne über den Verlust seines Bruders und kongenialen Klarinettisten aus dem Augenwinkel.
Während Kühn mit zwei Stücken von Coleman sowie mit einer Pop-Song-Referenz – ich spiele jetzt mal einen Titel der Doors - seine formfreie Ungebundenheit demonstriert, folgt Kasar eher verspielten Elektro-Jazz-Adaptionen. Die windumflorte Waldeinsamkeit seiner Schwarzwaldheimat durchflirrt wie eine melancholische Resonanz seine Dialoge zwischen Klavier und Electronics.
DIE IDEE ZUR ZUR VITALEN WIRKLICHKEIT GEWORDEN
Das Abschlusskonzert mit Rymden in der Heilig Kreuz Kirche manifestiert mit programmatischem Nachdruck, dass die Idee des New colours festivals eine vitale Wirklichkeit geworden ist. Die Hoffnung auf Nachhaltigkeit, dass nach dem ersten Jahrgang weitere folgen mögen, hat damit eine belastbare Grundierung erhalten.
Rymden setzt nach dem frühzeitigen, tragischen Tod des Gründers des einflussreichen Trios e.s.t., Esbjörn Svensson vom Bassisten Dan Berglund und dem Drummer Magnus Öström mit dem umtriebigen Bugge Wesseltoft den e.s.t.-Sound nicht nur fort. Das Trio übersetzt den ursprünglichen The New Conception of Jazz in elegisch drangvolle, rasant sich auftürmende Kaskaden. Beispielsweise entlockt Berglund seinem Bass lyrisch feinsinnige Melodien, die sich im Dialog mit Öström und Wesseltoft gleich einem Gewitter klanggewaltig aufbauen.
Öström übersetzt mit stupender Überzeugung Snare-Trommel, Becken, verschiedene, metallene Klangmaterialien in ein mitunter berserkerhaftes straight-ahead-Tempo. Wesseltoft flutet die angebotenen Soundstrukturen mit Rhodes und Moog, eingebettet in harmonisches Klavier-Arpeggio, zu in dem Kirchengewölbe zersplitternden Collagen.
Die in der Heilig Kreuz Kirche, wie auch schon in den Konzerten im Schloss Horst hin und wieder absichtslos von einen rhythmisch inspirierten Fuß umgeworfenen, laut auf den Steinfußböden aufschlagenden Bierflaschen fügen sich problemlos in die jeweiligen Klangepisoden ein. So, als wollten sie bei aller New Colour darauf aufmerksam machen: Wir sind hier im Ruhrgebiet.