Wie ein Jazzstandard entsteht...
Pablo Held Trio auf Schloss Horst
TEXT: Peter E. Rytz | FOTO: Stefan Pieper
Statt eines Konzertes in Holland eins im Schloss Horst in Gelsenkirchen. Corona macht’s möglich. Wo ist der Horst - und wer ist hier überhaupt der Horst?, fragt Pablo Held . Ich bin zum ersten Mal hier. Wow, es geht noch was! Danke, dass ihr da seid.
Held ist mit Robert Landfermann (b) und Jonas Burgwinkel (dr) beeindruckt von der Kulisse. Schloss Horst, eines der ältesten Renaissance-Schlösser Westfalens und seit 1988 in Teilen rekonstruiert, verbindet eine Stahl-Glas-Beton-Konstruktion mit den noch erhalten gebliebenen Renaissancewänden zu einem atmosphärisch dichten Raum. Vor dieser imposanten Kulisse, ausgeleuchtet mit grünen und roten Spots, ist alles angerichtet für ein besonderes Jazzkonzert. Organisiert von Fine Art Jazz, steht dieser Name schon seit einigen Jahren programmatisch für Jazz an außergewöhnlichen Orten mit ebenso außergewöhnlichen Sounderlebnissen.
Bevor es losgeht, wirft Heldeinen Blick zurück in die 15jährige Zusammenarbeit des Trios. Seit 2008 folgen sie der Überzeugung, nur noch Konzert für Konzert mit einem mehr oder weniger fest gelegten Programm zu spielen, genüge ihren künstlerischen Ansprüchen nicht mehr. Sie wollen ihrer unmittelbaren Intuition folgen. Also, mit nichts weniger auf die Bühne zu gehen, nicht zu wissen, was sie spielen werden. Jedes Konzert solle eines sein, dass es danach nicht wieder geben würde. Das hieße allerdings nicht, dass ihrem Spiel keine Kompositionen zugrunde liegen: Die haben wir gelernt! Wie sich auch an diesem Abend zeigt, funktioniert ihr Spiel folgendermaßen: Ein Musiker eröffnet mit einer Phrase, einem Motiv das Konzert und die anderen finden sich mit den ihnen bekannten (gelernten) kompositorischen Facetten in einer musikalischen, narrativ frei flutenden Kommunikation zusammen.
Held eröffnet das erste ca. 45minütige Set mit tastenden Akkorden. Mit einem spitzbübischen Lächeln sucht er Kontakt zu Bass und Schlagzeug. Landfermannbesetzt die Mitte wie ein Fels im Strömen eines Flusses. Obwohl sehr auf die Line Notes konzentriert, gelingt es ihm, sich entsprechend der Spielsituation zu dynamisieren, motiviert straight ahead mit fordernder Bass-Verve. Dagegen lauscht Burgwinkelmit geschlossenen Augen den Tonfolgen entgegen, bearbeitet das Drumset energisch mit feinem Gespür für Tempi und Lautstärke. Er schmilzt nicht nur gestisch und mimisch mit dem Sound so zusammen, als würde er sich aus einem inneren Monolog lösen, die über die Musik hinausreichende Kommunikation mit den anderen suchen, er steigert den Sound mit ausatmenden, vokalen Tonfolgen.
Beim Zuhören assoziieren sich Bilder von übermütigen Lausbuben, die gemeinsam in einen Wald rennen. Einer rennt irgendwann schneller als die anderen. Verschwindet in ihm. Die anderen laut rufend hinterher, ihre Wege kreuzen sich, bevor der nächste davon jagt – und so fort. Mitunter stolpernd, fallend, sich wieder aufrappelnd, immer ein Lied auf den Lippen. Gebrochene Akkorde, Arpeggio gleich, schillert facettierend der Sound. Licht bricht ins Dämmerlicht des Waldes. Geschafft!
Das 2. Set macht nach einer längeren, hygienegerechten Lüftungspause narrativ weiter, wo das 1. Set aufgehört hat. Burgwinkel animiert mit hauchzart gesetzten Klangformungen. Nach dem Waldabenteuer scheinen sie an einem See angekommen zu sein. Als würde eine leichte Windbrise das Wasser kräuseln, fordert Held mit insistierendem Tasten-Nachdruck zu einem Wettstreit, die Wellen zu verblasen, auf. Landfermannzögert für einen Moment. Gemeinsam oder allein? Burgwinkelschafft mit einem von Drums pulsierenden Hechtsprung ins Wasser Tatsachen. Kaskadenartig spritzt das imaginäre Wasser, von Melodien umtost. Für die Bodenhaftung sorgt Landfermann mit langgezogenem Bogenspiel. Burgwinkelkadenziert mit einem Klangholz den Drum-Sound. Die Windböe löst sich auf und verklingt.
Na ja, überredet, lächelt Held den stürmischen Applaus der kaum mehr als 50 Zuhörer zu einer Zugabe weg. Und er gibt noch einen weiteren Blick in seine Kompositionswerkstatt. Der erste Satz Allegro vivace des 4. Klavierkonzerts von Sergei Rachmaninowfasziniert ihn seit Jahren mit einer innigen Melodie. Diese eine Stelle habe ihn inspiriert. Er habe Akkorde aufgeschrieben, eine Melodie assoziiert – und heraus gekommen ist ein Jazzstandard, erzählt er mit größter Selbstverständlichkeit. Wer bisher noch nicht wusste, was ein Jazzstandard ist, weiß es jetzt.