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WAS ENTSTEHT SOLL FREI SEIN...

Ein Resümee des 52. Moers-Festival

Moers, 03.06.2023
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Marion Kainz, Stefan Pieper

Schöpferisch agieren heißt, aus Reichtum zu schöpfen. Tim Isfort und alle Beteiligten beim 52. Moers-Festival taten dies in einer Weise, dass am Ende eines der freudvollsten, ausgewogensten Festivals seit langem heraus kam. Realisiert wird so etwas in Moers weitgehend ohne große Namen oder prominente Highlights - dafür mit einem umso besseren Gespür für dramaturgisches Zusammenwirken. Zahllose Menschen reisen aus aller Welt nach hierhin, eben weil sie darauf vertrauen, dass hier das Besondere stattfindet und das Beliebige draußen bleibt. Ebenso erfreulich: Viele Freiwillige hatten sich von der Idee von Moers anstecken lassen. Monatelang war das Team in Schulen unterwegs, um für das Mitwirken zu werben - mit dem Erfolg, das über 70 junge Menschen in vielen Bereichen zum Festival auf verschiedene Weise beitrugen und damit wohl auch zu künftigen Besucherinnen und Besuchern werden.

HOCHKULTUR DURCH DIE BRILLE VON MOERS GESEHEN

Der ungarische Komponist György Ligeti, der am 28. Mai 100 Jahre alt geworden wäre, ist der Jubilar des Jahres im internationalen Musikleben. Wenn sich nun Moers in Richtung „Hochkultur“ verneigt, dann geschieht so etwas aus dem produktiven Blickwinkel dieses Festivals hinaus. Heraus kam ein vitales Spannungsfeld zwischen komponierten Ideen eines großen Meisters und einer herrschaftsfrei wuchernden Fantasie aller Teilnehmenden bei mehreren aufwändigen Projekten. Wer hier „Werktreue“ erwartete, wurde enttäuscht. Aber genau darum geht es hier: Bei der Entstehung von Unberechenbarem in der ersten Reihe zu sitzen. Ein schillerndes Klangpanorama erzeugte eine handverlesene Großbesetzung in der Auftragskomposition „Music from Kylwiria“. Benannt ist das zugrunde liegende Ligeti-Werk nach jenem Utopia, welches der ungarische Komponist in seiner Kindheit ersann und welches nur zu gut auf den – immer wieder neu und verspielt inszenierten - Festivalgeist passt. Unter Federführung des jungen Geigers Lukas Döhler überzeugte das Nachwuchsprojekt „Le Petit Macabre“ mit Musikschülerinnen und -schülern aus NRW, die wiederum die fabelhaft interagierenden Silke Eberhard (sax) Eddy Kwon (violine) und Ethan Iverson (piano) in ihre Mitte nahmen. Auch das Vokalensemble des SWR war in großer Besetzung nach Moers eingeladen worden. Die Präzision, mit der sie Ligetis Vocal-Clustern Kontur gaben, war schlichtweg Weltklasse.

Wie kompromisslos „Chormusik“ in kühne Avantgarde abzuheben in der Lage ist, beweisen zurzeit die Trondheim Voices wie wohl kaum ein anderes Gesangsensemble auf diesem Planeten. Die Norwegerinnen hoben in eine Klangwelt ab, die schließlich, elektronisch unterstützt im Abstrakten und Geräuschhaften aufging, wo neben Ligeti-Elementen auch frühmittelalterlich anmutende Skalen, Anleihen an rätselhafte Volksmusik-Traditionen und viele bizarre Spiritualität Pate standen. Viel zu viel unruhiges Kommen und Gehen in der Festivalhalle behinderte leider etwas die Versenkung in dieses Erlebnis. Das Latenight-Konzert in der Evangelischen Stadtkirche war hier eindeutig der bessere Deal.

IS THIS NOT A JAZZFESTIVAL?

„This it not a jazzfestival“ lautete im letzten Jahr das Motto. Aber ist das wirklich so? Vielleicht entsteht Jazz, verstanden als universelle Haltung von Improvisation und kultureller Toleranz gerade dann, wenn das Wort mit den vier Buchstaben als einengende Konvention wegfällt. Weil sich dann die Dinge wieder aneinander reiben können. Vor allem gab der feierfreudige soziale Kosmos einer Open-Air-Bühne zur blauen Stunde der Musik viel Luft zum Atmen. Günther „Baby“ Sommers „Brother- and Sisterhood“ klang genauso, wie dieses neue Projekt heißt. Der aus Dresden stammende Schlagzeuger ist mit fast 80 Jahren ein unermüdlicher Ideengeber und Menschenfänger. Hier skandierte er, als wenn es ein Rap wäre, die Lautpoesie des Dadaisten Hugo Ball, die einem seiner aktuellen Stücke mit dem Titel „Karawane“ zu Grunde liegt. Das gute Dutzend Musikerinnen und Musiker, die einen Querschnitt der deutschen Jazzszene ausmachten und ebenso ihr Publikum stiegen dankbar ein. Auch der Vibrafonist David Friedmann reicht ein Erbe weiter: In diesem Fall traf er auf Jim Hart, einen viel jüngeren Kollegen am Instrument, der gerade in aller Munde und auf allen Bühnen Berge versetzt. Befeuert wurde die freie Improvisations-Begegnung der beiden Mallet-Spezialisten vom mächtig aufspielenden Schlagzeuger Drori Mondlak.

DREI VENUES VERSTÄRKEN DIE VIELSCHICHTIGKEIT

Das unstete Hin und Her zwischen verschiedenen Aufführungsstätten kann durchaus manchmal zu einer etwas enervierenden Rastlosigkeit ausarten. Die Entscheidung „für“ ein Konzert ist immer eine Entscheidung „gegen“ ein anderes. Das spricht für die durchgehend hohe Qualität des Angebots, aber tut nicht selten in der Seele weh. Aber die Reichweite des Festivals aufgrund der Fülle aus Szenen, Ästhetiken, Kulturmilieus lässt eine so breite Angebotspalette unumgänglich scheinen. Wenn Moers als kollektiver, sich selbst tragender Zustand erst mal läuft, braucht es sowieso kaum noch Inszenierung mehr, denn füllen sich nämlich die programmatischen „Synapsenräume“ ganz von selber.

Früher gab es das große Zelt, danach die neues Festivalhalle – seit letztem Jahr agieren drei Spielorte gleichberechtigt miteinander: Halle, „Rodelberg“ und die neue Annex-Bühne. Das macht Sinn, verkörpert jeder Ort doch einen anderen Aspekt von Livekultur: Die Halle bietet konzentriertes audio-visuelles Eintauchen, was zum Beispiel bei einem Elektronik-Konzert mit dem „Recursion"-Kollektiv nebst opulenter Lasershow aufregende Wirkungen freisetzte.

Was das Festival seit letztem Jahr wieder als elementaren Ort für improvisierte Musik „erdet“ und damit auf seine Ursprungsidee aus den Gründertagen zurück wirft, ist die „Annex-Bühne“: ,Umgeben von den nüchternen Betonwänden eines Gymnasiums fördert hier ein perfektes Atrium die Symbiose zwischen improvisierenden Musikern und konzentriert lauschendem Publikum. Mehr noch: Die Festivalleistung hat hierfür die kuratorische Verantwortung an die beteiligten Bands und Projekte abgegeben. Auch das ist ein schöpferischer Akt, um Befreites zu fördern. Überwältigendes, Elementares, Forschendes entfaltete sich hier vier Tage lang. In Echtzeit, ohne Filter.

Faszinierende Tastenkunst bot der Finne Aki Rissanen auf einem elektronisch aufgemotzten Cembalo plus Loopstation. So originell sind wohl noch nie Improvisationen im barocken Stil auf Ambient-Texturen geprallt. Gavin Bryar, ein mittlerweile 80jähriger britischer Gentleman tauchte mit einem eigenen Ensemble seine Zuhörerschaft in einen menschlich wärmenden Soundtrack, gipfelnd in einer Endloschleife, wo alle Instrumente über ein in den 1970er Hahren aufgenommenes Lied von einem namenlosen, umherreisenden Tramp meditierten.

Eine kraftvollle Säule im Programm von Moers markieren seit Jahren viele Bands vor allem aus Frankreich und Belgien, die aus dem dortigen Progressive-Rock-Freejazz-Spektrum schöpfen und wo Musikmachen auch immer etwas mit Dreck unter den Fingernägeln zu tun hat. Zaäar, der Name dieser belgischen Band klingt danach, als wenn er „kobayanische“ Wurzeln in sich trägt (so nannte die stilprägende französische Progrock-Band Magma ihre Kunstsprache, in der konsequent gesungen wird). Ebenso war auf die frankobelgische Band Neptunian Maximalism Verlass, wie sie ihr Publikum mit einem gitarrenlastigen Wall of Sound narkotisierte.

EIN WÄRMENDES LAGERFEUER IN DER GROßEN STILLE

Früher war es das ganze Jahr über abends still in Moers. Bis auf einmal im Jahr, wo fünf Tage und Nächte der gesamte Freizeitpark in einer friedlichen Riesenparty rund um die Uhr vibrierte. Seit bald einem Jahrzehnt herrscht nun auch zu diesem Zeitpunkt nachts Friedhofsruhe, was immer noch etwas surreal anmutet bei allen, die das Moers von früher als kollektiven Bewussteins(erweiterungs)zustand mitgemacht haben. Durch einen kurzfristigen Gerichtsbeschluss hatten die Stille-Freaks der niederrheinischen Kleinstadt dieses Mal in letzter Minute sogar noch etwas mehr raushandeln können: So hieß es circa 24 Stunden vor Festivalbeginn, dass es nun noch eine Stunde früher keine Musik und kein Bier mehr geben soll. So abrupt vor Beginn eines Großereignisses mit weit über 100 Konzerten und 250 Musikern hat bei solchen Schnellschüssen mal wieder der Veranstalter das Nachsehen: Die Mehrarbeit die anfällt, um kurz vor Beginn des Konzertmarathons nochmal den ganzen engen Time-Schedule mit Technik, Bühnenumbau, Shuttle-Service, Ansagen, Catering etc. umstricken zu müssen, haben die Entscheider in den Behörden (und ihre Anhänger) vermutlich nicht im Blick.

Für die heutigen Macher des Moers-Festivals ist Harmonie ein großer Wert, wodurch ja auch so viel neue Akzeptanz und Unterstützung aus vielen Richtung generieret wurde. Also lebt die Kunst, aus gegebenen Rahmenbedingungen fantasievoll Beste rauszuholen: Auf dem Rodelberg wurde ein kleines Lagerfeuer entzündet. Und tatsächlich steht jetzt ein Flügel dort - wo einst bis zum Hellwerden die Djemben wummerten. Jetzt rücken hier alle, die noch geblieben sind, zusammen, lassen sich vom leisen Pianojazz von Ethan Iverson zum Runterkommen die Seele streicheln. Wieder einer dieser besonderen, singulären Momente, die es nur hier zu geben scheint.

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