WAR DIES DAS ALLERLETZTE PLATZHIRSCH FESTIVAL?
Nächstes Jahr ist erstmal Pause
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper , Marion Kainz
Es klingt für viele Menschen in Duisburg, aber auch weit darüber hinaus traurig, aber es ist erst mal Fakt: Das Platzhirsch-Festival wird nach seiner zehnten Ausgabe erst einmal pausieren. Die Gründe dafür sind komplex: Der veranstaltende Verein Kultursprung e.V. und zahllose Freiwillige haben sich in den letzten Jahren so stark verausgabt, dass sie eine Atempause brauchen, wie sie selber bekunden. Ein Jahr mehr Vorlaufzeit ist vielleicht sogar eine vernünftige Lösung, möchte man die bisherige Größenordnung unter den herrschenden Bedingungen fortsetzen - in einer weitgehend ehrenamtlichen Struktur und auf einer finanziellen Basis, die man schon als prekär bezeichnen kann. René Schwenk, Hauptkurator des Festivals, ist guter Hoffnung, dass ein Jahr mehr die nötige Luft verschafft. Tim Isfort , der auch (aus einschlägig bekannten Gründen) zur Gründungs-Crew des Festivals gehörte, sieht die Auswirkungen einer solcher Entscheidung mit deutlich mehr Sorge. Ein so großes Gefüge aus ehrenamtlichen Akteuren bricht möglicherweise ganz schnell in sich zusammen, sobald eine Pause den Faden abreißen lässt. Auch die bescheidenen öffentlichen Förderungen, die jedes Jahr neu zu beantragen sind, werden damit aufs Spiel gesetzt. Zu still sollte es auch im nächsten Jahr besser nicht werden rund um den Dellplatz. Es braucht jetzt starke Signale, dass dieses Festival als soziokultureller Ankerpunkt für Duisburg und als überregionaler Imageträger unverzichtbar ist.
Jedes Jahr aufs Neue mutet die Bündelung kultureller Aktivitäten schier unglaublich an und die zehnte Ausgabe überbot sich noch einmal: Insgesamt über 70 (!) Veranstaltungen und Projekte für jung und alt konzentrieren sich an einem Wochenende auf zwei Open-Air-Bühnen am Dellplatz- inclusive Filmvorführungen, Theater, Workshops, Projekte für Kinder, zwei hervorragende Fotoausstellungen zum Thema Urbanität im Ruhrgebiet etc. Auch die Säule als akustisch hervorragende Studio-Spielstätte ist immer dabei, sowie die Sankt-Josefs-Kirche als spektakulärer atmosphärischer Raum für kammermusikalische und experimentelle Konzerterlebnisse und audiovisuelle Inszenierungen. Das alles vereint zu einem Gesamtensemble, in dem alles fußläufig erreichbar ist, wo sich mit erfreulicher Sichtbarkeit so vieles vereint, was von engagierten Menschen in dieser Stadt gelebt und mit Herzblut gestaltet wird.
Wie blind ist die Stadt Duisburg gegenüber ihrer eigenen Kultur?
Auf das Signal eines solchen Festivals zu verzichten, ist für eine Stadt, die normalerweise vor allem wegen ihrer soziostrukturellen Probleme und Auswüchse in die Negativ-Schlagzeilen kommt, mehr als fahrlässig. Haben manche kommunale Kulturverwaltende in Duisburg von dem gebotenen Qualitätsniveau und der verbindenden Kraft der Kultur vielleicht bislang zu wenig mitbekommen? Oder wollen sie dies sogar bewusst nicht sehen bei diesem freien Kulturevent, welches einst als engagierte Antwort auf die unrühmliche Abwicklung des „alten“, von Tim Isfort kuratierten Traumzeit-Festivals ins Leben gerufen wurde? Auf so etwas deuten zumindest so manche Beobachtungen und Interpretationen der Festival-Macher hin, welche in der Vergangenheit doch eher wenige (bis gar keine) Besuche von verantwortlichen Lokalpolitiker*innen auf dem Platzhirsch-Festival verzeichnen konnten. Gerade hier braucht es wohl etwas Nachhilfeunterricht, dass „der Platzhirsch“ alles andere als etwa ein beliebiges Stadtteilfest ist, für das mal eben die freundliche Gabe von 10000 Euro im Jahr reicht.
Auch die zehnte Ausgabe offenbarte wieder den ganzen Weitblick und die tiefe Vernetzung dieses Festivals in aktuelle Musikszenen und Kultursparten: Mächtig türmten sich Ambient-Klangflächen und sphärische Drones auf, als das renommierte Elektronik-Duo Kammerflimmerkollektiv in der Sankt Josefs-Kirche demonstrierte, dass der Name hier Programm ist. Punkiger Elektropop, gut gewürzt mit Technoelementen - so kam die musikalische Gegenwart des österreichisch-deutschen Duos „Chicks on Speed“ über die Fangemeinde auf der Open-Air-Bühne. Gesellschaftlich relevant und das nicht ohne verspielten Charme ging es zu, als die queerfeministische Rapperin Lila Sovia gegen Chauvinismus, Missbrauch und Grenzüberschreitungen zu Felde zog. Wie ein frischer Wind aus der Duisburger Musikszene tobte die Band „Heatwave“ über den Dellplatz. Wie international das Platzhirsch-Festival längst geworden ist, belegt auch der Umstand, dass sogar aus Japan eine Band angereist kam: Nämlich ein junges, progressives New-Metal-Trio namens GMF – und die zeigten, wie viel extreme Präzision doch hinter gutem Metalsound steckt. Brachiale Energie, als würde es kein Morgen geben! Was leider einer gewissen Wortwörtlichkeit nicht entbehrt gerade...
Eine Posaune gegen die Friedhofsruhe
Die finalen Konzerte am Sonntagabend in der Säule bekamen durch die aktuellen Neuigkeiten schon wieder einen Hauch von jener Stimmung, wie sie vielen Konzerte unmittelbar vor den Corona-Lockdowns anhafteten. Thorsten Töpp, langjähriger Festival-Kurator und begnadet „vielsaitiger“ Gitarrenimprovisator bereicherte gleich zwei Besetzungen. Einmal im „Trio Leon“, zusammen mit dem iranischen Bassisten Reza Askari, einem echten Meister in Sachen intuitivem Gespür. Sowie dem Schlagzeuger Marcos Baggiani. Der meditative Fluss, der sich hier aufbaute, hatte durchaus manchmal was von halluzinogenem Psychedelic Rock der späten 1960er Jahre. Wenn Festivals von Leuten kuratiert werden, die selber Musiker sind, wirkt sich das immer künstlerisch fruchtbar aus. Der finale Act beim Platzhirsch war daher schon fast symbolträchtig: Zu Thorsten Töpp gesellte sich Tim Isfort am Bass, ebenso Patrick Hengst, der nicht nur das JOE-Festival kuratiert, sondern auch auf dem Schlagzeug keine Grenzen kennt. Christopher Varner ist zwar kein Festivalmacher, aber einer der expressivsten Posaunisten zwischen Neuer Musik und freier Improvisation. Der gab im besten Sinne alles, kraftvoll befeuert von seinen drei Mitstreitern. Das improvisatorische musikalische Erdbeben widerspiegelte durchaus eine Portion Wut über die aktuellen kulturpolitischen Verhältnisse, was Schlagzeuger Patrick Hengst und Tim Isfort nach diesem schweißtreibenden Auftritt einstimmig einräumten. So könnte man auch die tief melancholischen Soundscapes in den ruhigeren Parts deuten. Aber man sollte Christopher Varners schneidende Posaunenfanfaren vor allem als Signal der Hoffnung sehen, dass nicht für immer Friedhofsruhe über den Dellplatz komme. Bzw. als öffentliche, also politische Zielvorgabe!