Von der Kunst des rechten Träumens
Ensemble Pninin in den Flottmannhallen
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper
"Es ist ein Buch, das einen das ganze Leben begleiten kann", sagt der heute in Dortmund lebende Schlagzeuger, Komponist und Arrangeur Andreas Seemer-Koeper - und so war irgendwann der Zeitpunkt gekommen, Fernando Pessoas Buch der Unruhe in Klänge, Rhythmen und Bilder zu "übersetzen." Was sind Träume? Was hat das Leben aus mir gemacht? Das Verhältnis zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten ist das große Thema in diesem literarischen Werk, das mit dem Schubladenbegriff Roman nur sehr unzureichend charakterisiert ist.
Das musikalische Resultat solcher Reflexionen verschaffte sich in den Herner Flottmannhallen eindrücklich Gehör. "Ich-Lieder" heißt der erste song-orientierte Part, gefolgt von dem stilistisch deutlich freieren Zyklus "Von der Kunst des rechten Träumens."
Bei einem so gewichtigen Werk muss die Primärquelle, also der Text selber im Zentrum bleiben. Auf der Studiobühne in den Flottmann-Hallen bringt Christina Böckler die Worte zum Leben - mit gesungen, später in expressivem Sprechgesang deklamierten Passagen aus dem Buch! Und mehr noch: Christina Böckler bereicherte die Aufführung auch noch mit "Traum-Bildern", die sie auf ausgiebigen Streifzügen mit der Videokamera zusammentrug.
Der musikalische Aufwand drumherum ist immens. Ein ganzes Kammerensemble hat in den Herner Flottmann-Hallen Aufstellung bezogen mit zwei Schlagzeugen, sowie Klarinette, Akkordeon, Violine und Tuba. Da breiten die Spielfiguren der Marimbafone eine bittersüße Melancholie aus, während die dunkel timbrierten Gesangslinien von Christina Böckler mit Klarinette und Violine auf Tuchfühlung gehen. Immer ist die "Sehnsucht nach dem anderen", die Auseinandersetzung mit der reichen aber auch verstörenden Welt jenseits des Alltagsbewusstseins das durchgängige Thema.
Klangfarben erinnern an Feldman und Messiaen
Eine feierliche Getragenheit, meist in durchgängigen Molltonarten verströmt der erste Konzertteil. Nach der Pause geht es deutlich experimenteller zur Sache. Unberechenbar gebärden sich jetzt die rhythmischen Impulse, um in spannungsvolle Bezüge zu Christina Böcklers Sprechgesang zu treten. Zugleich erinnert die verspielte Luftigkeit der Arrangements an so manches Kammermusikwerk von Igor Strawinsky. Tatsächlich ist dieser Klassiker der frühen Moderne auch ein Lieblingskomponist von Andreas Seemer-Koeper. Ebenso ist es kein Zufall, dass so manche sphärische Klangfarbe phasenweise an Morton Feldman oder Olivier Messiaen erinnert. Aber es gibt auch Patterns, die in Richtung Minimal Music tendieren – und dann reduziert sich Christina Böcklers Stimme auch mal ganz auf sich selbst allein und wird nur von rhythmischem Händeklatschen begleitet.
Bildgewaltig-surreal geht es dazu auf der Großbildleinwand am hinteren Rand der Bühne zu. Irgendwann taucht schemenhaft die Einspielung von einem Karnevals-Umzug auf. Bedeutet das Eintauchen in Träume nicht auch das Kokettieren mit anderen Rollen? Erwächst aus der Beschäftigung mit dem Unbewussten nicht lust- und leidvolles zugleich? Gehört das Leben mir eigentlich selbst oder doch eher den anderen? Man versinkt beim Hören und Sehen in eigenes meditatives Nachdenken. So wie es auch die Lektüre dieses Buches beim hinreichend fantasiebegabten Leser evoziert. Was ja der Ausgangspunkt für den heute in Dortmund lebenden Musiker und sein aktuelles Projekt ursprünglich war. Andreas Seemer-Koeper, der eine ganze Reihe umtriebiger Projekte unterhält (unter anderem auch die ambitionierte Cookbook-Cd-Reihe) möchte für die Zukunft auch eine CD-Produktion ins Auge fassen.