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Aufschrei und Empathie

Vadim Neselovskyi und das Mryia-Ensemble überwältigten

Bochum, 26.10.2023
TEXT: Stefan Pieper | FOTO: Stefan Pieper

Vadim Neselovkyis neu komponiertes und gerade erst uraufgeführte "Ukrainian Diary" begehrt gegen den Krieg auf - mit allen expressiven Mitteln, welche moderne und oft auch improvisatorisch "befreite" Kammermusik aufzubieten in der Lage ist. Aber neben aller dissonanten Wucht überwältigte die Aufführung zusammen mit dem ukrainischen Mryia-Ensemble durch viele starke Momente voll berührender Empathie. 

Bei Neselovskyi wirkte ein produktiver Transformationsprozess: Am Anfang, also am 24. Februar 2022 herrschte erst mal Schockstarre, die bei dem erfahrenen Musiker zum ersten Mal im Leben das Klavierspiel, das für ihn sonst eine Luft zum Atmen darstellt, zum Verstummen brachte. Aber er entwand sich der schöpferischen Blockade und begann, ein musikalisches „Tagebuch“ ohne Worte zu schreiben. Über 200 Partiturseiten kamen dabei heraus.

Zunächst redet er im Kunstmuseum über seine Geschichte, was ihn antreibt und über die Voraussetzungen für dieses neue Werk. Er, der nach dem Umzug seiner Familie nach Dortmund im Ruhrgebiet aufwuchs und mittlerweile weltweit gefragt ist und schon mit Gary Burton und John Zorn kollaborierte, hat über viele lange Jahre einen starken emotionalen Zusammenhalt durch das „Take 5“- Festival erfahren, dessen künstlerischer Leiter Uli Bär wie eine Art Mentor für ihn war. Und dann beschreibt Vadim Neselovskyi, wie sich die letzten anderthalb Jahre angefühlt haben. Gerade die Beobachtungen am Rande wiegen schwer: Dass in der Ukraine Krieg ist, sieht man hierzulande ja nur in den Nachrichten. In der Ukraine ist es – zum Beispiel - an der überall wachsenden Zahl neuer Gräber auf den meisten Friedhöfen im Alltagsbild offensichtlich.

Ein faszinierend flexibler Einsatz stilistischer Mittel

Lyrisch, ruhig und elegisch lässt das Ensemble auf der Bühne die Suite beginnen. Neselovskyi räumt den Streichern viel Raum zur eigenen Gestaltung ein. Eine fragile, zerbrechliche Stimmung in einer zarten Introduktion suggeriert Verletzlichkeit. Dann bricht das Inferno los, der nicht für möglich gehaltene russische Angriff. Perkussive Cluster des Klaviers bringen jede Harmonie zum Einsturz, grelle Dissonanzen der hohen Streicher blitzen auf - und die motorisch pochenden Klanggewitter des Cellos fahren durch alle Nervenbahnen. Von jetzt ab loten die Sätze dieser Suite alle individuellen und kollektiven Empfindungsebenen einer aus den Fugen geratenen Wirklichkeit aus. Wie eine zarte Stimme erhebt sich aus einer Trümmerlandschaft die Viola mit einer Volkslied-Melodie, die zerbrechlich, ja in lautmalerischer Verdichtung bewusst „unsauber“ intoniert ist. Das Monströse und das tief Empfindsame, Menschliche liegen oft dicht beieinander - in musikalischer Hinsicht entspricht dem eine faszinierende Flexibilität im Einsatz stilistischer Mittel und Kontraste. Etwa, wenn sich eine merkwürdig ironisch-gebrochene Tango-Melodie aus lautmalerischen Trümmerlandschaften erhebt, wenn Versatzstücke aus ukrainische und auch russischen Volksliedmelodien sarkastisch gebrochen werden. Treibend motorische Parts suggerieren den eigenen, heroischen Überlebenswillen, versinnbildlichen aber auch die Normalität des Verdrängens und Konsumierens. Ein düsterer Choral bildet die gespenstische Wirklichkeit von Mariupol ab. Vadim Neselovskyi spielt sich in Rage, traktiert die Tasten oft perkussiv, lässt aberwitzig zupackende Improvisationen vom Stapel und sich von der eigenen Emotion sichtlich mitreißen. Was auch den Spiellevel von Viktor Ivanov (Violine), Kateryna Suprun (Viola) und Mariia Mohylevska (Violoncello) in ungeahnte Höhen treibt, die auch trotz der komplexen kompositorischer Strenge dieser Musik viele Freiräume zum Improvisieren mit puren Klangwirkungen auskosten. Vor allem Cellistin Mariia Mohlevska hat viel rockigen Groove im Blut dabei. Noch einmal bäumt sich der ganze expressive Apparat im vorletzten Satz auf. Dann hat in einer elegischen Melodie die Humanität, die Hoffnung auf bessere Zeiten das letzte Wort. Nein, das vorletzte: Das letzte hatte das Publikum, welches nach einem Moment der ergriffenen Stille über viele Minuten lang stehend applaudierte.

Da haben sich kreative Fenster geöffnet

In seiner - deutlich jazz-affineren - Odessa-Suite wirkt Vadim Neselovskyi als Botschafter für den kulturellen Reichtum seines Heimatlandes. Mit seinem "Ukrainian Diary" verlagert sich der Fokus mitten ins Herz der europäischen modernen Kammermusik hinein, denn auch viele Spurenelemente von Ligeti, Schnittke oder Kurtag springen ins Ohr. Im Gespräch nach dem Konzert erzählte er, dass er all dies in seiner Jugend gründlich studiert hat, bevor ihn die Liebe zum Jazz überkam. Den Schaffensrausch, der ihn bei der Komposition des Ukrainian Diarys überkam, markiert auch für ihn eine überraschende Rückbesinnung auf solche Prägungen: „Ich wundere mich selber, welche Fenster hier wieder aufgegangen sind“. Und ja – trotz der Tragik des Anlasses haben die vier Beteiligten mächtig Spaß an dieser kraftvollen, genreübergreifenden und im wahrsten Sinne des Wortes „neuen“ Musik. Das Stück soll nun an vielen weiteren Orten in Europa und den USA aufgeführt werden – und sich dabei auch noch weiter entwickeln. Am 26. November kommt das „Ukrainian Diary“ nach NRW zurück, wenn Vadim Neselovskyi und das Mryia Ensemble im Dortmunder domicil das Abschlusskonzert der Dortmunder Jazztage spielen.

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