Tom Harrell in Münster
Konzertimpressionen
TEXT: Ingo Marmulla | FOTO: Ingo Marmulla
Ich bin an diesem Abend schon früh in Münster eingetroffen und habe noch Gelegenheit einige Worte mit dem Organisator des Konzertes, dem Saxophonisten Manfred Wex, im Auditorium des Westfälischen Landesmuseums zu wechseln. Derweil wird von Harrells Band während des Soundchecks noch einiges am Equipment verändert oder weg gerückt: Das E-Piano wird heute nicht zum Einsatz kommen, die Lichtanlage wird modifiziert, das Schlagzeug wird umgestellt etc. ... Als schließlich der „Check“ beendet ist und die Band in die nahe gelegene Pizzeria zum Essen wechselt, betritt Tom Harrell, begleitet von seiner Frau, den Saal. Man könnte eine Nadel fallen hören. Magie umgibt diesen von seiner Krankheit gezeichneten Ausnahmemusiker...
Nun sind es nur noch wenige Minuten bis zum Konzertbeginn. Der Saal füllt sich schließlich bis auf den letzten Platz. Manfred Wex sagt die Band in etwa mit den Worten an: „Wir sind froh, heute Abend zum wiederholten Male Tom Harrell und seine Band begrüßen zu dürfen. Sie können mir glauben, das ist wahrlich mit das Beste, was man derzeit im Jazz hören kann!“ Er wird Recht behalten.
Das Konzert beginnt mit dem Titelstück der neuen CD „Moving Pictures“. Eine Medium-Tempo-Kompositionen mit einem gestaffelten geheimnisvollen Thema im Dreier-Takt, auf der CD multiphon mit Trompeten aufgenommen, hier in der Live-Version thematisch unterstützt und mit genügend Volumen versehen durch das Klavierspiel von Danny Grissett. Die Dynamik dieses Konzertbeginns, die perlenden Läufe auf dem Flügelhorn, die sympathische Klangsprache des Solisten Tom Harrell unterstützt durch den groovigen Rhythmus seiner Begleiter, bezaubern die Zuhörer und nehmen sie in den Bann. Von der ersten Note an spürt man den Wohlklang der Band, der nie in Gefahr gerät, in Kitsch ab zu gleiten. Ausgehend vom Hardbop hat Harrell eine Tonsprache entwickelt, die Elemente des Populären, des Folk und der Klassik einbezieht und zu einem Ganzen fügt. Schon bei den ersten Noten erkennt man die für ihn typische Musik. Wahrlich, ein genialer Komponist und Trompetenvirtuose!
Die Band besteht aus Musikern, mit denen Harrell teilweise schon seit mehreren Jahren zusammen arbeitet. Und das hört man auch. Danny Grissett am Flügel begleitet den Trompetenstar souverän, sicher und hoch sensibel. Neben seinen brillianten Soli lotet er die Musik Harrells harmonisch punktgenau aus. Ugonna Okegwo, der in der Band Harrells wohl am längsten von allen agiert, hält mit seinem Bassspiel alles zusammen und überzeugt darüber hinaus solistisch überragend. Er entwickelt gewissermaßen das Fundament, auf dem sich die Reisenden in Sachen „Klanggemälde“ entfalten können. Und schließlich sei Adam Cruz am Schlagzeug genannt, der durch sein dynamisches Spiel der Musik den Drive verleiht, ohne sich in den Vorgrund zu spielen.
Nach „Dublin“, einem Stück, das wie der Mehrzahl der an diesem Abend zu hörenden Kompositionen leider nicht auf der genannten CD enthalten ist, und in dem sich die Begleitband solistisch sehr überzeugend vorstellen kann, geht es weiter mit „Vibrer“. Es erklingt ein Duo von Piano und Trompete. Nach einer ausgedehnten recht frei gestalteten Introduktion von Grissett beginnt Harrell auf einer Ostinatofigur mit langgezognen Blueslinien um in zwei völlig neu entwickelten Themen hinüber zu wechseln und mit einem „Bluesshout“ auf einem ultrablau gefärbten Bluesgerüst weiter zu improvisieren. Im Gedächtnis der Zuschauer verbleibt ein bemerkenswertes Zusammenspiel, basierend auf vorgegebenen thematischen Strukturen verbunden mit improvisatorischer Freiheit und Frische.
Von den dargebotenen Kompositionen sei hier noch „Delta of the Nile“ erwähnt. Ein Stück, das auf der CD „Something Gold, Something Blue“ enthalten ist. Während bei der Originalsaufnahme eine arabische Oud eingesetzt wurde, reichen an diesem Abend wenige typische Melodieeinwürfe Harrells, um uns in eine orientalische Klangwelt zu versetzen. Überhaupt fällt in Harrells Spiel seine motivische Improvisationstechnik auf. Ausgehend von kleinen Melodiebausteinen, Verzierungen oder rhythmischen Mustern entwickelt er diese so weiter zu einem größeren Improvisationsgeflecht, wie es nur wenige Musiker spontan auf der Bühne zu tun verstehen.
Das letzte Stück des regulären Konzertprogramms heißt „The Try“. Für mich die musikalische Überraschung an diesem Abend. Da erklingt meiner Meinung nach ein humoriger Tom Harrell. Einem befreundeten Musiker neben mir flüstere ich leise zu:
„Klingt ja wie Fanfare und Giant Steps gleichzeitig!“ Leider ist dieses Stück noch auf keiner CD zu hören. Wirklich schade! Ugonna schrieb mir zu dieser Komposition:
“Ein Stück in Hardbop Tradition, Up Tempo Swing Feel, AABA Form, 32 Takte, mit G-Pedal Intro (‘2’ und ‘4’ akzentuiert), und 4 Takte Send Off. Hauptsächlich II-V Harmonie Verbindungen, die ersten vier Takte des A Teils in C (über G-Pedal), die zweiten in B (H). Der B Teil besteht aus II-V Verbindungen nach Eb Moll, Ab Moll, und Db Moll ohne Resolutionen...“
Lang anhaltender Applaus bringt die Band noch einmal auf die Bühne. Mit der Mingus-Komposition „Nostalgia in Time Square“ verabschieden sich Tom Harrell und Band. Tja, Manfred Wex hat Recht behalten: „Wahrlich mit das Beste, was man derzeit im Jazz hören kann!“